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unzweifelhaft sehr groß, so hält er doch keinen Vergleich mit der Einwirkung aus, die von dem Reformator ausging und (spätestens vom Anfang 1519 an) die Anschauungen Melanchthons für einige Zeit von Grund aus umgestaltet hat. Vergegenwärtigt man sich die Männer, die bisher durch unmittelbare persönliche Einwirkung Melanchthon beeinflussen konnten, so hat man von dem Elternhause abgesehen eigentlich nur Reuchlin als eine ungewöhnliche Eigenart zu bezeichnen. Pallas Spangel, Simler, Franz Kircher, Stöffler alles vortreffliche Männer, zum Teil auch von bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen, aber nicht Persönlichkeiten von der ausgeprägten Art, daß sie einen unauslöschlichen und entscheidenden Einfluß auf das bildsame Gemüt des jungen Gelehrten hätten ausüben können. In dem Tübinger Freundeskreise aber war Melanchthon offenbar der herrschende Geist gewesen, woran auch das Pietätsverhältnis, in dem er sich dem um fünfzehn Jahre älteren Dekolampad gegenüber immer fühlte, nichts ändern konnte. Auch die eindrucksvolle Würde Reuchlins wird auf Melanchthon nicht so stark gewirkt haben wie auf andere, sondern naturgemäß durch die Vertraulichkeit, wie sie sich aus den verwandtschaftlichen Beziehungen ergab, zwar nicht aufgehoben, aber doch etwas abgeschwächt worden sein. So war Luther die erste Persönlichkeit von überwältigender Größe, die Melanchthon gegenübertrat, und zu keinem günstigeren Zeitpunkte hätte dieser ihn kennen lernen können. Vor drei Monaten erst war er von dem in Heidelberg abgehaltenen Augustinerkonvent zurückgekehrt. Hier hatte er, ohne auf die damals schwebende Ablaßfrage näher einzugehen, zum erstenmale den Kern seiner augustinischpaulinischen Theologie vor einem weiteren Kreise entwickelt und in den empfänglichen Herzen seiner jüngeren Zuhörer begeisterten Widerhall geweckt; auch die älteren Professoren der Heidelberger Universität, so wenig sie mit der von ihm vertretenen Richtung einverstanden waren, hatten sich doch nicht ganz der Gewalt seiner Persönlichkeit entziehen können und ihren Widerspruch in achtungsvolle Worte ge= fleidet. Die erfreulichen Eindrücke in Heidelberg hatten seinen Geist erfrischt und gestärkt, und auch die Thatsache, daß gerade damals die endgültige innere und zum Teil auch äußere Scheidung von seinen scholastischen Erfurter Lehrern eintrat, vermochte seine gehobene Stimmung nicht zu beeinträchtigen. Auch die Vorladung nach Rom, die

er nicht lange vor Melanchthons Ankunft, am 7. August empfing, war nicht imstande, seinen Geist niederzudrücken. Er war ent= schlossen, wenn es sein mußte, für seine Lehre in den Tod zu gehen; die Drohungen seiner Feinde schreckten ihn nicht. Wir wissen, in wie bewunderungswürdiger Weise Luther in derartigen entscheidungsschweren Augenblicken sich die Freiheit und Heiterkeit des Geistes zu bewahren wußte, und alles, was wir an schriftlichen Äußerungen aus jener Zeit von ihm besigen, zeigt, daß dies auch damals der Fall war. Unter diesen Verhältnissen lernte Melanchthon ihn kennen, und wenn uns auch nur spärliche Nachrichten über den Beginn des Verkehrs beider Männer zugekommen sind, so ist doch sicher nicht daran zu zweifeln, daß schon in der Anfangszeit von Melanchthons Aufenthalt in Wittenberg, also wahrscheinlich bereits in den ersten Tagen des September, sich ihr Verhältnis zu inniger Herzlichkeit gestaltet hat. Es fonnte natürlich nicht anders sein, als daß wie bei jeder ent= stehenden Freundschaft die beiden Männer zunächst von dem sprachen, was ihnen persönlich das Leben an Freude und Leid gebracht hatte. Wenn sie dann abends in Luthers Zelle saßen oder unter dem Birnbaum, unter dem einst Staupit dem verzagenden Martinus Trost zugesprochen hatte, dann wird Luther dem unter so ganz anderen Verhältnissen aufgewachsenen Freunde von seiner harten Jugend und seinen bäuerlichen Vorfahren erzählt haben, und vielleicht stammt schon aus jener Zeit das Wort, in welchem Melanchthon die überragende Gestalt des unvergleichlichen Mannes treffend gezeichnet und es ausgesprochen hat, daß ihm die führende Stellung auch dann nicht hätte entgehen können, wenn er wie seine Väter auf dem Lande geblieben wäre: „Ihr würdet ein Oberster, Schultheiß, Heimbürger (Gerichtsbeisigender) und was sie mehr für Ämter im Dorfe haben, oder irgend ein oberster Knecht über die andern geworden sein."

Die Bedeutung, die der regelmäßige Verkehr beider Männer in der ersten Zeit ihres Zusammenseins gewann, darf jedenfalls nicht gering angeschlagen werden, und daß Luther ihm den höchsten Wert beilegte, zeigt der erste Brief, den er an Melanchthon schrieb, auf das deutlichste. Bekanntlich hatte Friedrich der Weise den auf dem Augsburger Reichstage anwesenden Kardinal Cajetan veranlaßt, von Luthers Ladung nach Rom vorläufig abzusehen und ihn in Augsburg

zu verhören. Während Luther gen Augsburg zog, mußte er nach den Warnungen und mitleidigen Äußerungen, die er von allen Seiten zu hören befam, erwarten, daß ihm der schimpfliche Tod des Kezers bevorstand; es konnte nicht anders sein, als daß auch in sein tapferes Herz die Wehmut über sein Schicksal einzog, und von dieser Stimmung legt das Schreiben Zeugnis ab, das er am 11. Oktober aus Augsburg an Melanchthon schickte. Schon die Überschrift „an seinen allersüßesten Melanchthon" lehrt, wie tief seine Neigung bereits war; mehr aber noch fällt es ins Gewicht, daß er den Verzicht auf den Verkehr mit dem neugewonnenen Freunde als das bezeichnet, was ihm den Entschluß, für seine Sache in den Tod zu gehen, am meisten erschwere. Indessen so bedenklich sich auch das Gebaren Cajetans anließ, der Widerruf zulezt unter Bannandrohung forderte, Luthers Befürchtungen gingen nicht in Erfüllung, und ungefährdet, wenn auch in fluchtähnlicher Eile, konnte er unter Hinterlassung einer Verwahrung an den Papst die Stadt verlassen.

Nach seiner Rückkehr steigerte sich der Verkehr zwischen den Freunden noch zu immer größerer Innigkeit. Der scherzhafte Ton, den Luther in einem zufällig erhaltenen Briefchen an Melanchthon anschlägt, (22. Nov. 1518) kann uns eine Vorstellung von der heiteren Vertraulichkeit geben, die zwischen ihnen herrschte. Aber es war namentlich bei Luthers Persönlichkeit selbstverständlich, daß der Grundcharakter ihrer Gespräche troßdem tiefer, durchdringender, die Wahrheit suchender Ernst war. Man wird nicht daran zweifeln dürfen, daß Luther schon bald nach Melanchthons Ankunft versucht hat, den Freund für seine theologische Richtung und für die Theologie überhaupt zu gewinnen. Dann wird er ihm von den schweren inneren. Kämpfen berichtet haben, unter denen ihm selbst die Erkenntnis der Wahrheit aufgegangen war. Daß Luther gerade darüber sein Herz ausgeschüttet, darf man mit Sicherheit annehmen, zumal das innere Ringen bei ihm damals so wenig wie später aufgehört hatte. Hatte er doch erst wenige Monate vor Melanchthons Ankunft das er= schütternde Selbstbekenntnis niedergeschrieben: „Ich kenne einen Menschen, der diese Strafen oft gelitten zu haben versicherte, zwar nur für eine Spanne Zeit, aber doch so groß und entseßlich, daß sie keine Zunge aussprechen, kein Griffel beschreiben, noch jemand, der sie nicht erfahren hat, glauben kann, so daß, wenn sie zur Voll

Ellinger, Melanchthon.

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endung gebracht worden wären oder nur eine halbe Stunde gedauert hätten, er ganz hätte zu Grunde gehen und seine Gebeine in Asche hätten zerfallen müssen. Hier erscheint Gott schrecklich und mit ihm zugleich auch die gesamte Kreatur. Da giebt es kein Entfliehen, feinen Trost, sondern nur Anklage in allen Dingen." Und unmittelbar nach Melanchthons Ankunft schrieb er an Staupitz bei der Erwähnung der Gefahren, die ihm von seinen Gegnern drohten: „Unvergleichlich Schlimmeres leide ich, wie du weißt, und das veranlaßt mich, jene zeitlichen und augenblicklichen Blizschläge ziemlich gering anzuschlagen", und man wird auch diese Worte auf schwere innere Anfechtungen zu beziehen haben. Aber war es auch selbstverständlich, daß Luther dem Freunde von dem erzählte, was damals seine Seele bewegte, jeder Bericht wäre unnötig gewesen, denn Melanchthon mußte im Äußern des Freundes die lesbaren Spuren erkennen, die die gewaltigen inneren Kämpfe zurückgelassen hatten. Der abgezehrte Körper, das troz aller urwüchsigen Kraft, die daraus sprach, durchgeistigte Antlitz zeugten deutlicher als alle Worte für die inneren Qualen, die er zu bestehen hatte. Und Melanchthon selbst ist Zeuge gewesen, wie Luther unter dem Eindruck dessen, was in ihm vorging, alles um sich her vergaß, wie er tagelang ohne Nahrung blieb oder sich nur mit ganz unzureichender Speise begnügte. Und doch war der unter diesen gewaltigen Kämpfen fast Verzagende und Erliegende derselbe Mann, der mit unerschütterlicher Festigkeit das einmal für wahr Erkannte vertrat, derselbe, der im Freundesgespräch so menschlich liebenswürdig und heiter sein konnte, und wieder der Gleiche, dem die Zornesader schwoll und dem sich auch das seinen Freunden zu scharfe Wort auf die Zunge drängte, wenn er für seine Sache ins Feld zog. So war der Mann beschaffen, der auf die empfängliche Seele des jungen Melanchthon jezt immer eindringlicher zu wirken begann kein starrer und kalter, dem Leben abgewandter Heiliger, wohl aber ein großer, edler und liebenswerter Mensch, an dem nirgends ein äußerlich angelernter Zug war, sondern bei dem jeder Gedanke aus der Tiefe der inneren Erfahrung und des unter Schmerzen geborenen persönlichen Erlebnisses quoll.

Der bedeutende Einfluß, den Luther auf seinen jungen Freund ausübte, machte sich jedoch nicht sofort mit ganz unmittelbarer Gewalt geltend, sondern wirkte nachhaltig, aber zunächst langsam. Leider sind wir über

die Entwickelung Melanchthons während der ersten Zeit seines Wittenberger Aufenthaltes nicht sehr gut unterrichtet. So viel aber wird man wohl sagen dürfen: der Interessenkreis Melanchthons begann sich zu ändern, seine Neigung für die Theologie wuchs, allein eine durchgreifende Veränderung seines Standpunktes ist wahrscheinlich vor Anfang 1519 nicht eingetreten. Es scheint, daß er bis zu diesem Zeitpunkt Luthers Sache ähnlich wie die große Mehrzahl der jüngeren Humanisten gegenüberstand. Zu nahe lag es, Luthers Angelegenheit mit der von Melanchthons Großoheim zu vergleichen oder an Erasmus zu denken, der troß seiner ungemeinen Vorsicht den Anfeindungen der scholastischen Partei nicht hatte entgehen können; und daß Melanchthon wirklich zunächst Luther in diesem Lichte sah, lehrt die Thatsache, daß er in der Vorrede zu seiner Rhetorik ihn mit den beiden glänzenden Namen in eine Reihe stellt; Erasmus, Reuchlin, Luther erscheinen dort Vertreter der gleichen Sache, als Männer, denen von den gleichen Gegnern Gefahr und Verfolgung droht. „So ist," fährt Melanchthon fort, nachdem er die drei Männer nacheinander aufgeführt und ihr Streben kurz charakterisiert hat, „unter den wahrhaft Gelehrten niemand, dem nicht von der frechen Unwissenheit Gefahr gedroht hätte. Aber unter dem Schuße der Götter erblühen die guten Wissenschaften von neuem und richten sich überall wieder auf, obgleich noch immer die, die in den Universitäten vor jedermann ihre selbstgefällig vorgetragene philosophische Weisheit auseinanderflauben, ihre Sache vortrefflich verteidigen". Was aber noch dazu beitrug, daß die völlige innere Umstimmung Melanchthons sich zunächst etwas langsam vollzog, das war die Thatsache, daß in der ersten Zeit, zunächst etwa bis zum Anfang des Jahres 1519, Melanchthon mehr der Gebende, Luther mehr der Empfangende gewesen zu sein scheint.

Mag man die Einwirkung des Nominalismus und verwandter Richtungen auf Luther noch so hoch anschlagen, im Grunde war doch das, was Luther an wissenschaftlichen Anregungen von außen her aufgenommen hat, verschwindend gering im Vergleich zu dem, was ihm die eigne, persönliche Erfahrung bot. Nicht aus der wissenschaftlichen Arbeit war ihm die Befreiung aus den schwersten Dualen, die Durchdringung zur religiösen Überzeugung gekommen, sondern aus seiner inneren religiösen Entwickelung, der allerdings die Schrift und Augustin

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