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geistig völlig zu eigen zu machen. Der Rat Agricolas, für jeden Gegenstand zuerst die Grundbegriffe (loci) festzustellen und aus ihnen dann die einzelnen fachlichen Gesichtspunkte abzuleiten, konnte sowohl für selbständige schriftstellerische Arbeit als auch für die Erklärung litterarischer Werke nußbar gemacht werden. Wie erfüllt jedenfalls Melanchthon von der neuen Geisteswelt war, die sich ihm in Agricolas Werk erschlossen hatte, lehrt der begeisterte Lobgesang auf die Dialektik, den er in der besprochenen Rede über die sieben freien Künste anstimmt. Darin preist er die Dialektik als die Begleiterin der Litteratur, die den Umfang der gesamten geistigen Bethätigung umfasse; er greift auf das heftigste die Verächter dieser Wissenschaft an, in der er die „Mutter aller Künste“ und die ewige und unerschütterliche Erkenntnis der Wahrheit" verehrt. Als ihre Hauptaufgaben bezeichnet er Erfindung und Anordnung; „denn die Begriffe aller Dinge, deren Zusammenhang und Ordnung, das alles legt sie in scharfer Prägung sein säuberlich dar". In der etwas verschnörkelten und überladenen Bildersprache Politians sucht er die Bedeutung, die der Dialektik für das Gebiet des gesamten Wissens zukommt, zum Ausdruck zu bringen: denn jener Vater des Handelsverkehrs, der Ocean, führt nicht so viel Reichtümer, so viele Schäße dem Erdkreis zu, als diese eine Kunst der Encyklopädie“. — Offenbar hat sich hier Melanchthon mit den würdigen Herren von der Universität, in deren Gegenwart er die Rede hielt, einen kleinen Scherz erlaubt. Denn nach der Lage der Sache mußten sie glauben, Melanchthon spreche von der scholastischen Dialektik, während es doch eine ganz anders geartete wissenschaftliche Richtung war, der seine begeisterten Worte galten.

Im übrigen hat sich Melanchthon bemüht, mit den Tübinger Vertretern der Scholastik im Frieden zu leben; noch in der eben erwähnten Rede bedenkt er die Anhänger des Duns Scotus mit einem Lob und rühmt sie wegen ihres Gedankenreichtums; auch zwischen den beiden scholastischen Parteien, deren heftige Fehden so oft die Eintracht an den damaligen Universitäten gestört haben, soll er mit Erfolg zu vermitteln gesucht haben. An dem guten Einvernehmen zwischen ihm und den Anhängern des alten Lehrsystems scheint auch seine Stellung in dem Reuchlinschen Streite zunächst nichts geändert zu haben. Denn es war selbstverständlich, daß Melanchthon sich der

streitbaren Schar der Reuchlinisten zuzählte, nicht bloß verwandtschaftliche Beziehungen, sondern seine ganze Geistesrichtung wies ihm diese Stellung an. So hat er denn auch die Briefsammlung, welche dazu bestimmt war, der Welt die Männer vorzuführen, auf deren Unterstützung Reuchlin mit Sicherheit rechnen konnte, die „Briefe berühmter Männer" mit einem Schreiben eingeleitet; wenn er auch darin den Streit überhaupt nicht erwähnte und die Briefe vor allem als Stilmuster empfahl, so war doch schon durch das begeisterte Lob Reuchlins, das er anstimmte, sowie durch die Thatsache, daß seine Worte an der Spize des ganzen Werkes standen, sein Standpunkt auf das deutlichste bezeichnet. Wie sehr ihn jedenfalls die Reuchlinisten zu den ihren zählten, sehen wir aus dem Gegenstück zu den Briefen berühmter Männer, den „Briefen der Dunkelmänner.“ Im zweiten Teile des unübertrefflichen Buches wird auch Melanchthon erwähnt, und zwar in dem köstlichen Reisegedichte des Magisters Schlauraff, als dessen Verfasser mit höchster Wahrscheinlichkeit Ulrich von Hutten bezeichnet werden darf. Der unglückselige Magister Schlauraffius, ein treuer Anhänger der Kölner Dominikaner, erzählt in barbarischen Versen (die hier in möglichst entsprechender Weise deutsch wiedergegeben werden) von den Unbilden, die er auf seiner Reise von Reuchlins Anhängern zu erdulden hat:

Nach Tübingen nun zog ich fort; viel arge Gesellen sizen dort,
Die neue Bücher machen
Der allerelendste davon
Wie ich das wohl erfuhr;
Säh' ich ihn tot darniederfallen,
Auch Bebel war da auf dem Plan
Und Paulus Vereander (Geräander),
Sie wollten mich schlagen, daß es krachte,

und verächtlich die Theologen belachen;
ist Philipp Melanchthon,

drum that ich zu Gott den Schwur:
wollt ich zum heil'gen Jakob wallen.
und Johannes Brassikan
die schwuren alle miteinander,

wenn ich mich nicht aus dem
Staube machte.

So kampfesfroh die Stimmung des Tübinger Kreises hier in der Schilderung eines offenbar gut unterrichteten Zeitgenossen auch erscheint, so hat Melanchthons Parteinahme für seinen Oheim doch schon um deswillen in Tübingen zu Zerwürfnissen "kaum Veranlassung gegeben, weil die Tübinger Professoren, die der Scholastik anhingen, keineswegs Gegner Reuchlins waren. Der Theologe Jakob Lemp, von dem Melanchthon später zu erzählen pflegte, daß er die Lehre von der Wandlung (Transsubstantiation) durch Zeichnungen an der Tafel klar zu

Ellinger, Melanchthon.

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machen gesucht habe, hatte sogar als Rechtsbeistand Reuchlin unterstüßt, als dieser auf die Vorladung des Kezermeisters Hochstraten in Mainz erschienen war. Die Rede über die sieben freien Künste, die aller Wahrscheinlichkeit nach im Herbst 1517 gehalten worden ist, bezeugt uns denn auch, daß Melanchthon damals (also drei Jahre nach dem Erscheinen der Briefe berühmter Männer) mit den scholastischen Theologen noch auf gutem Fuße stand: einen Angriff gegen den bisherigen Lehrbetrieb, der durch den Inhalt der Rede nahe ge= legt war, hat Melanchthon offenbar absichtlich vermieden. Indessen kurze Zeit nachher, also Ende 1517 oder Anfang 1518, muß sich das gute Verhältnis zwischen Melanchthon und den Vertretern der alten Richtung zu trüben begonnen haben. Was dazu die unmittelbare Veranlassung gegeben hat, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich aber werden wir den Grund in der allgemeinen Scheidung der Geister zu suchen haben, wie sie sich namentlich im Laufe des Jahres 1517 immer deutlicher vollzogen hat. Gerade in diesem Jahre erschien Pirkheimers Apologie, worin der Gegensatz zwischen den Forderungen, die der Humanismus für die wissenschaftliche Behandlung der theologischen Wissenschaft aufstellte, und der Scholastik auf das schärfste herausgearbeitet war (S. 40 f.); Hutten gab die Schrift des Lorenzo Valla über die Unechtheit der konstantinischen Schenkung heraus und deckte in der an Leo X. gerichteten Vorrede mit schonungsloser Schärfe die kirchlichen Mißbräuche auf, unter denen namentlich Deutschland zu leiden hatte; und wie sehr diese Ge= danken alle Gemüter beherrschten, lehrt die Thatsache, daß selbst der zahme Wimpheling sich ihnen nicht entziehen konnte und höchst= wahrscheinlich in diesem Jahre seine wuchtige „Rede des Volkes an Gott" erscheinen ließ, worin mit gewaltigen Worten geschildert wird, in welcher Weise namentlich das niedere Volk durch das Aussaugesystem der römischen Kirche bedrückt wurde. Die Anhänger des Alten, von denen vielleicht noch mancher etwas freier veranlagte Geist die scharfen Pfeile der Dunkelmännerbriefe als gute Späße belacht hatte, mußten mißtrauisch gegen eine Richtung werden, von der sie mit solcher Schärfe in ihren Lebensinteressen angegriffen wurden, und wie so oft hat sich dann diese Abneigung gegen die geistige Strömung in persönlichen Widerwillen gegen ihre Vertreter umgeseßt. Das mußte jezt auch Melanchthon erfahren; er wurde in gehässiger Weise an

gegriffen; auch in seinen amtlichen Beziehungen hatte er aller Wahrscheinlichkeit nach kränkende Zurückseßungen zu erfahren. Durch diese persönlichen Erfahrungen wurde seine Haltung der Scholastik gegen= über von Grund aus verändert; daß durch die bisherige Studienordnung an den Universitäten zu Gunsten der Dialektik fast alle anderen in der Encyklopädie vertretenen Wissenschaften vollständig vernachlässigt worden waren, hatte Melanchthon in der so oft erwähnten Rede mehr angedeutet, als wirklich ausgesprochen und seiner Darstellung jedenfalls nicht die leiseste polemische Spize gegeben. Wie wenig er schon einige Monate später (Mai 1518) geneigt war, noch weiter ähnliche Zurückhaltung zu üben, zeigen seine Worte in der Vorrede zu seiner griechischen Grammatik: „Die Studien, welche sowohl den Verstand als die Sitten bilden sollen, sind vernachlässigt; von encyklopädischem Wissen ist nichts vorhanden; was man Philosophie nennt, ist leerer, unfruchtbarer Trug, der nur Zank gebiert; die wahre Weisheit, die vom Himmel herabkam, um der Menschen Sinne zu lenken, ist verbannt." Auch den Feinden Reuchlins gedachte er jetzt mit schärferen Waffen entgegenzutreten; gerade in dieser Zeit (Januar 1518) trug er sich mit dem Plane einer Satire auf den Kezerrichter Hochstraten, der allerdings nicht zur Ausführung gekommen ist.

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Jedenfalls wurde ihm die lezte Zeit seines Tübinger Aufenthaltes ebenso durch die persönlichen Anfeindungen, die er zu erdulden hatte, wie durch den engen, seinen Fähigkeiten und seinem Können nirgends entsprechenden Wirkungskreis, der ihm an der Universität angewiesen war, verbittert. Unter dem Eindruck aller dieser Widerwärtigkeiten erschienen ihm in den nächsten Jahren die Verhältnisse an der Tübinger Hochschule in dem dunkelsten Lichte, Du kannst Dir nicht denken," schrieb er im Herbst 1521 an Willibald Pirkheimer, wie musenverlassen diese Menschen sind. Und es herrschen dort die allerungelehrtesten Leute, wenn Du nicht etwa den Theologen Lemp, den ärgsten Faseler, zu den Gelehrten rechnen willst." Er fühlte, wie der Anfangsunterricht, den er hauptsächlich zu erteilen hatte, ihn geistig niederzog und wünschte sehnlichst den drückenden Verhältnissen dieses „Arbeitshauses" entrissen zu werden. Deshalb mußte er mit Freuden eine Berufung begrüßen, die durch Reuchlins Vermittelung an ihn gelangte. Friedrich der Weise hatte sich im

April 1518 an Reuchlin mit der Bitte gewandt, ihm für die UniverFlat Wittenberg je einen Lehrer der griechischen und der hebräischen Sprache zu empfehlen, und Reuchlin schlug für die griechische Profeffur feinen Neffen Melanchthon vor. Für ganz kurze Zeit wurde in Wittenberg diese Angelegenheit noch verzögert; man hatte hier noch einen anderen Bewerber für diese Stelle, den trefflichen Leipziger Humanisten Petrus Mosellanus, den namentlich Luther und dessen Freund, der einflußreiche Hofkaplan Friedrichs des Weisen Spalatin (S. 38) empfahlen. Doch fürchtete man sich, Reuchlin zu verlegen, wenn man auf seinen Vorschlag nicht einginge, und so entschied sich Friedrich der Weise für Melanchthon. Allbekannt sind die Worte, mit denen Reuchlin am 24. Juli 1518 seinem Neffen von der erfolgten Entscheidung Mitteilung machte und ihn ermahnte, den Ruf anzunehmen, was denn auch geschah: „Hier ist,“ schrieb er, der Brief des trefflichen Fürsten, von seiner eignen Hand unterzeichnet, in welchem er dir die Stelle und seine Gunst verspricht. Ich will dich jezt nicht poetisch anreden, sondern mit jener wahren Verheißung, die Gott dem gläubigen Abraham gab:,,Gehe aus deinem Vaterland und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will, und ich will dich zum großen Volk machen, und will dich segnen, und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein." Dies sagt mir der Geist, dies hoffe ich von dir, mein Philipp, du mein Werk und mein Trost. Komm also frohen und heitern Muts. Dies ist mein Rat; sei unerschrocken, sei kein Weib, sondern ein Mann; der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande.“

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Sucht man nun die bisherigen Grundlinien der geistigen Entwickelung Melanchthons zu zeichnen, so lassen sie sich etwa folgendermaßen zusammenfassen. Die sorgfältige wissenschaftliche Überwachung, die ihm in dem Kindheitsalter zu teil wird, schüßt seinen Geist vor der Überreizung, die bei ungewöhnlich früh entwickelten Kindern so häufig eintritt, und weiß eine stetige Entfaltung der reichen Geistesgaben, die in ihm schlummern, herbeizuführen. Eine sichere grammatische Grundlage bringt er schon auf die Universität mit und vermehrt sein bedeutendes Wissen auf diesem Gebiete durch beständiges Selbststudium und im Wetteifer mit gleichgerichteten Freunden. Politan erweitert seinen Gesichtskreis; er erschließt ihm die Schazkammern der antiken Litteratur und lehrt ihn, diese unter bestimmten litterar

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