Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

die Gestalten der Schrift vorführt, weiß er gefühlvolle Anteilnahme zu erwecken; das geschieht nicht bloß bei dem am Ölberg betenden Jesus, sondern z. B. auch bei dem kananäischen Weibe, dem eine vortreffliche Charakteristik gewidmet ist.

Es hängt mit diesem Bestreben zusammen, daß sich Melanchthon bemüht, die seelischen Vorgänge stets klar hervortreten zu lassen. Er bedient sich dabei kleiner Charakterbilder, die meist an naheliegende Begebenheiten anknüpfen und die vorschwebenden Gedanken gut zur Anschauung bringen. So greift Melanchthon, wenn er darthun will, daß die scheinbare Gottesliebe des Menschen in Not und Bedrängnis leicht zusammenbricht, ein Bild heraus, das in jenen Zeiten der Verfolgung leider oft zu schauen war: „Es wird ein wackerer Seelsorger nebst seiner Familie von seinem stillen Herde vertrieben. Dieser denkt: Ich habe mich um die Kirche verdient gemacht und werde dennoch verworfen? Warum schickt Gott mir, der ich mir solche Verdienste erworben, der ich schon dem Alter nahe bin, solche Anfechtungen, während andere, weniger Verdiente Wohlleben, Ehre, Gemächlichkeit genießen?" Den seelischen Regungen, den menschlichen Gefühlen sucht Melanchthon überall nachzugehen, und in wahrhaft rührender Weise kommt er namentlich immer wieder auf die Elternliebe zurück, wobei die persönliche Empfindung lebhaft und deutlich hindurchtönt.

Wenn das Dogmatische zurücktritt, so ist das doch nicht so zu verstehen, als ob Melanchthon nicht in diesen Betrachtungen ebenfalls den reichen Ertrag seines Nachdenkens über religiöse Dinge uns vorgelegt hätte. Darum treten auch hier die Angelpunkte seiner Theologie entgegen: Glaube und Zuversicht, Gesetz und Evangelium, der Trost, den das Gebet spendet, die Notwendigkeit der inneren Thätig= keit des Menschen, die Abweisung der Irrtümer der Scholastik und der Schwärmer, der Vergleich der Tröstungen des Evangeliums mit dem, was die Weltweisheit an Tröstungen bietet, alles das wird vor uns ausgebreitet. Aber es geschieht nicht in streng lehrhafter Form, obwohl die durchsichtige Klarheit eine Aneignung des Vorgetragenen besonders leicht machte, sondern in einer freien, sich an das Gemüt wendenden Art, die ihren Eindruck selten verfehlt. Und alle Betrachtung der Glaubensvorgänge führt doch immer wieder auf den Menschen und seine seelischen Bedürfnisse zurück. „Auf eine gar merkwürdige Weise wechselt im menschlichen Herzen die Ebbe und

Flut von unstäten Gedanken, Plänen, Gefühlen. Was ist unbeständiger als das Menschenherz? Ist's doch wie ein Meer, wo ein Sturm den andern jagt. Bald wird es von Liebe, bald von Haß, bald von Schmerzen, jezt von Furcht, jezt von Hoffnungen aufgeregt. Ganz geringfügige Dinge sind es, welche die heftigsten Gemütsbewegungen hervorrufen können.“ Als einzigen Halt in diesem Unbestand zeigt Melanchthon seinen Schülern stets aufs neue Gott und das Vertrauen auf ihn. Und er prägt ihnen ein, wie der Gottesdienst vor allem im Gottvertrauen, geübt in der Berufsarbeit, besteht. So weiß er auch hier das Ideal einer neuanbrechenden Zeit zu zeichnen. „Der heilige Gottessohn weist dem einen in der Kirche, dem anderen in der Staatsverwaltung, einem Dritten innerhalb des Hauses seinen Wirkungskreis an; da sollen wir auch arbeiten. Er gründet nicht ein neues Reich in diesem Leben; er übergiebt dich deinem Vater, daß du ihm in deinem Berufe Folge leisten, in Kirche, Staat oder Haus ihm dienen sollst. Denn in jedem dieser Berufskreise will er, daß der Glaube geübt und befestigt werden soll.“

Hier wo Melanchthon seinen Schülern gegenüberstand und ihnen die verborgensten Tiefen seines Herzens öffnete, wird es nicht überraschen, daß ebenso wie in der Psalmenerklärung sich der bittere Schmerz des gequälten Greises Luft macht. Denn die Postille entstand in jenen Jahren, in denen Anfeindungen, Kummer, mühselige, ihm oft unerwünschte Arbeit den geliebten Lehrer langsam aufzureiben begannen. Deshalb hört man auch durch die Betrachtungen vielfache Klagen hindurch, und man kann nicht ohne das tiefste Mitgefühl die Worte lesen: „Mir begegnen oft Dinge, die mir weher thun als der Tod." Aber sehen wir so die Seelenqual des hochverdienten Mannes, wie sie ihm durch Feinde, durch den Anblick von Zügellosigkeit und Roheit sowie durch sein eignes weiches Herz bereitet wurde, so treten uns nicht minder aus Melanchthons Worten die religiösen Trostmittel lebendig entgegen, an denen er sein tief verwundetes Gemüt wieder zu neuer Thätigkeit aufrichtete.

Alles in allem: die Postille gewährt ein wirklich erquickendes Bild der reinen, edlen, von den besten Absichten beseelten Persönlichkeit und zugleich von der Art, in der sie junge Seelen erzog und veredelte. Um sie geschichtlich zu würdigen, muß man nur diese Vorträge einmal neben die besten der Geilerschen Predigten halten. Man

wird dann leicht erkennen, welcher Zuwachs an Vertiefung, an Erfassung der sittlichen Kräfte des Glaubens, an Lebensernst inzwischen gewonnen worden ist. Immer aber ist es der Verfasser, der diesen Reden über die Religion nach Form und Inhalt den Stempel aufdrückt; und wenn die sein Wesen aufs unmittelbarste wiederspiegelnde Betrachtungsart auch vor der gewaltigen Wirkung von Luthers Predigt zunächst zurücktrat, so blieb sie doch für die Folgezeit nicht verloren.

„In den Werken des Menschen," sagt Goethe, „wie in denen der Natur sind eigentlich die Absichten vorzüglich der Aufmerksamkeit wert." Dieses schöne und tiefe Wort bewahrheitet sich auch bei der Betrachtung der Lebensarbeit Melanchthons. Stellt man fest, welchem Zweck sein ganzes Schaffen diente, so kann man ihm gerecht werden. Daß so vielfach an seine Leistungen unbillige Maßstäbe angelegt worden sind, ist eben aus der völligen Verkennung seines Zieles zu erklären. Dieses läßt sich in aller Kürze so zusammenfassen: seine Absicht war, die Menschen zu bessern und zu bekehren.

Der Besserung, der Verfeinerung, Versittlichung war seine gesamte wissenschaftlich-unterrichtliche Thätigkeit gewidmet. Empfand er selbst auch die Beschäftigung mit der Wissenschaft um der Wissenschaft willen als tief befriedigend, so standen doch seine Bestrebungen um ihre Weiterverbreitung nach der Weise seiner Zeit fast ausschließ= lich unter dem Begriff des Nußens. Aber dieser praktische Standpunkt erscheint dem heutigen Beobachter nur bei der Betrachtung gelegentlicher Sonderbarkeiten des Einzelnen befremdlich; er wird verständlich und berechtigt, wenn man den großen Zug von Melanchthons Lebensarbeit ins Auge faßt. Alle Wissenschaft hat der Lebensgestaltung zu dienen. Sie soll die rohen Triebe bändigen, die Menschen an die zur Herstellung des gemeinsamen Wirkens nötige gegenseitige Rücksicht gewöhnen, sie soll dem Einzelnen wie der Gesamtheit beim Handeln eine geistge und sittliche Führerin sein. Das ist die Aufgabe, die Melanchthon der Wissenschaft stellt. Die im Menschen ruhenden Fähigkeiten hat sie auszubilden; der Ertrag der natürlichen Vernunft bewirkt dann die Herstellung einer menschenwürdigen Gemeinschaft sowie die angemessene Entfaltung der Kräfte des Einzelnen, der damit wieder als Glied in den Dienst des Ganzen tritt. Mit

einem Worte: die Wissenschaft ist dazu, im Leben das „Gesey" zu verwirklichen. Melanchthon betrachtet das Gesetz nicht bloß mit den Augen des Philisters, der Schuß und Sicherheit vom Staate verlangt; sondern für ihn ist es die Vorbedingung einer Verwirklichung der höchsten geistigen und sittlichen Aufgaben, die der Menschheit gestellt sind, und zugleich der Inbegriff des vollkommenen Ebenmaßes und der Harmonie. „Denn was könnt' es Schöneres,“ ruft er aus, „was Anziehenderes geben als die Leitung eines Gemeinwesens, wenn die Harmonie der menschlichen Gesellschaft nicht unterbrochen und gestört würde! Wenn die Staatsoberhäupter für die Ausbreitung der wahren Religion und ihre Beschüßung Sorge trügen! Wenn sie sorgfältig über den sittlichen Zustand der Bürger wachten; wenn sie die Streitigkeiten untersuchten, die Guten und Redlichen schüßten und begünstigten, die Bösen aber hemmten und bestraften! Wenn die Bürger einträchtig untereinander mit bescheidenem Sinne Folge leisteten, wenn in den Kirchen Ruhe herrschte und sie gut verwaltet würden! Wenn in den Schulen nützlicher Unterricht erteilt und strenge Zucht gehalten würde! Wäre nicht ein solcher Zustand jenes goldene Zeitalter, welches die Dichter schildern!“

Aber ein derartiger Zustand ist nicht zu erreichen, weil durch den Fall die Sünde in die Welt gekommen ist. Deshalb reichen die natürlichen Kräfte des Menschen nur dazu aus, die bürgerlich-sittlichen Verhältnisse zu ordnen. Allein auch diese Ordnung bleibt unvollkommen, da die menschliche Vernunft immer wieder durch die ihr infolge des Falles anhaftende Schwäche getrübt und gestört wird. Wird nun das durch die sittliche natürliche Zucht verfeinerte Gemüt vollends durch die Einwirkung des heiligen Geistes zur Erkenntnis der religiösen Forderungen des Gesezes gebracht und sieht die Unmöglichkeit, diesen Ansprüchen Genüge zu thun, so müßte es in den Schrecken des Gewissens zu Grunde gehen, wenn nicht Gott durch seine aller Vernunft unbegreifliche Gnadenthat Hilfe und Rettung brächte. Die Menschen zu der Bekehrung, der Buße hinzuführen, die allein den Vollzug der göttlichen Gnadenwirkung möglich machen, ist die zweite Absicht Melanchthons. Beide Aufgaben hängen für ihn untrennbar zusammen und sind doch wieder scharf von einander ge= schieden. Das sittlich-bürgerliche Gebiet bildet ein Reich für sich und bereitet doch den Menschen für die Aufnahme des Religiösen vor, wie

denn auch der bereits bekehrte Mensch innerhalb des Bezirkes jener für das äußere Leben erlassenen Gebote seine Kraft zu bethätigen hat. Den religiösen Vorgang selbst aber betrachtet Melanchthon vor allen Dingen immer unter dem Gesichtspunkte des Trostes. Das Evangelium gewährt Trost den Bekümmerten, Mühsalbeladenen, den Verzagenden und an den Daseinsfreuden Verkürzten. So faßt sich die ganze Absicht seiner Lebensarbeit zusammen: in den Menschen das Gefühl ihrer sittlichen Verantwortung wachzurufen, sie zu nüßlichen, ihrer Aufgabe bewußten Gliedern der menschlichen Gemeinschaft zu machen und ihnen zugleich den Trost zu geben, der allein in den Mühen, Enttäuschungen, Kümmernissen und Schmerzen des Daseins den richtigen Halt zu gewähren vermag.

Dieser Absicht diente seine ganze Thätigkeit, seine wissenschaftliche Arbeit, seine Bemühungen um Schule und Universität, seine Theologie. Deshalb hat man diese verschiedenen Zweige seiner Lebensarbeit nicht daraufhin anzusehen, inwieweit die nachfolgende Entwickelung der Wissenschaft und des Unterrichtswesens mit ihnen in Übereinstimmung oder im Widerspruch steht, sondern inwieweit sie eine Verwirklichung seiner Absichten darstellen. Wissenschaftliche Ergebnisse im Sinne der heutigen Fachwissenschaft von Melanchthon zu verlangen, heißt sein Lebenswerk von einem unrichtigen Standpunkte aus betrachten; wo sie doch erreicht werden, hängt es mit seinen eigentlichen Grundzielen nicht zusammen. Ebenso ist auch der Ausbau seiner Theologie durchaus von jenen leitenden Gedanken bedingt. War auch seine Veranlagung und die Neigung des Humanismus einer Systembildung nicht günstig für Melanchthon war sie hauptsächlich durch seine praktischen Absichten ausgeschlossen. Deshalb geht er auch ganz gleichgültig über Widersprüche hinweg; er denkt nicht daran, darüber Aufschluß zu geben, wie es zu vereinen ist, daß der heilige Geist erst den Glauben ermöglicht und andererseits doch der Glaube den heiligen Geist ins Herz bringt. Nicht die Auflösung solcher (allerdings nur scheinbarer) Widersprüche liegt ihm am Herzen, sondern der Wunsch, durch Aufschließung des Grundinhaltes des Evangeliums den Gemütern Trost und Sicherheit zu geben.

Und doch wäre auch die Entwickelung der deutschen Wissenschaft ohne den Lehrer Deutschlands undenkbar. Wohl finden wir bei Melanchthon keine jener wissenschaftlichen Entdeckungen, die eine Welt

« ZurückWeiter »