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Rechte zur Strafe auch die Formen der menschlichen Gemeinschaft unmöglich sein, die jene Begriffe zur Voraussetzung haben. Der Staat weist uns also auf die Freiheit als seine notwendige Ursache hin. Gott ist frei und ist an keine zweite Ursache gebunden, ebenso sind es die geistigen Wesen; neben dem wirkenden Naturzusammenhang besteht daher ein weites Gebiet des Möglichen (contingentia).

Wird somit die von den Stoikern versuchte Übertragung der unaufhaltsam wirkenden Naturnotwendigkeit auf das seelische Gebiet abgewiesen, so sucht Melanchthon auch einem zweiten Stüßpunkt der stoischen Anschauung seine überzeugende Kraft zu entziehen. Der in Betracht kommende Beweis ist der Logik entnommen. Die Wahrheit ist von der Zeit unabhängig. Deshalb muß ein Sah, der in Vergangenheit und Gegenwart wahr ist, es auch für die Zukunft sein. Und wenn in der Vergangenheit eine Thatsache nicht zugleich wahr und falsch sein kann, so ist das gleiche Verhältnis auch für die Zukunft anzunehmen. Wird daher das Zutreffende der Aussage: „Cicero wird Konsul sein“ zugegeben, so ist die Richtigkeit der Behauptung: „Cicero wird nicht Konsul sein“ damit ausgeschlossen. Demnach ist auch der Sat: „Cicero wird Konsul sein oder er wird es nicht sein“ undenkbar, wie überhaupt alle Säße, die zwei Möglichkeiten offen halten. Den Ausweg aus dieser Schwierigkeit findet Melanchthon im Anschlusse an Aristoteles. Er weist darauf hin, daß Wahrheit die Bezeichnung eines wirklichen Seins ist. Zukünftigen Ereignissen fommt jedoch ein wirkliches Sein nicht zu, da ihr Eintreffen noch nicht sicher ist. Deshalb darf der Ausdruck Wahrheit auf sie nicht angewendet werden.

Nach alledem ist an der Freiheit des Menschen, an seiner Fähigkeit zu sittlichem Thun nicht zu zweifeln. Allerdings ist diese Fähigkeit vielfach gehemmt durch die Nachstellungen des Bösen und durch die schlechten Affekte. Denn an der Thatsächlichkeit der Affekte hält Me= larchthon im Gegensaße zu den Stoifern fest und weist die stoische Unempfindlichkeit entschieden zurück. Auch sind ihm die Affekte keineswegs alle verwerflich; die guten sind dem Menschen von Gott eingepflanzt; die schlechten Affekte hat erst der Fall hervorgerufen. Doch hat der Wille die Kraft, diese bösen Affekte zu bändigen und so zur bürgerlichen Sittlichkeit zu gelangen.

Das Ergebnis des Zusammenwirkens dieser beiden Hauptkräfte

des Menschen, des von Gott in ihn gelegten sittlichen Wissens und seines freien Willens ist die Tugend. Einzelne Tugenden, in die diese Gesamttugend zerfällt, behandelt Melanchthon nach den zehn Geboten, die ihm in ihrer zweiten Tafel (d. h. vom vierten Gebote ab) geradezu als ein Abriß der philosophischen Ethik erscheinen. Denn sie stimmen mit dem im Menschen ruhenden Naturgesetz überein, und nur weil die Kenntnis dieses innewohnenden Gesezes durch den Fall getrübt worden ist, erwies sich eine von Gott ausgehende nochmalige feierliche Verkündigung als nötig. Melanchthon beschränkt sich nun freilich bei der Durchnahme dieser Tugenden nicht auf die Gebote allein, sondern er sucht daneben die einzelnen Tugenden auch aus dem sittlichen Bewußtsein selbst abzuleiten. Allerdings kommt er dabei über kümmerliche Ansätze nicht hinaus. Und es läßt sich bei der Betrachtung dieser Darlegungen nicht verkennen, daß die Zugrundelegung der zehn Gebote eine Aufdeckung der Grundsäße der natürlichen Sittlichkeit und des Naturrechtes ungemein erschwert, ja eigentlich unmöglich macht.

Nachdem Melanchthon die Tugend nach den sie begründenden Bestandteilen betrachtet hat, geht er dazu über, sie nach ihrem Inhalte darzustellen. Von diesem Standpunkt faßt er sie als Gerechtigkeit auf und scheidet die Gerechtigkeit wieder in eine allgemeine und eine besondere. Jene erscheint ihm als der Gehorsam gegen alle Gottesgebote; alle Kräfte im Menschen sollen diesen Gehorsam leisten, damit der Zweck, um dessentwillen Gott den Menschen geschaffen, die Gottesebenbildlichkeit und die Erkenntnis vom Wesen des höchsten Gutes, erreicht wird. Die besondere Gerechtigkeit aber ist ihm die, die das Verhältnis der Menschen zu einander, namentlich die gegenseitigen Beziehungen der Vorgesezten und Untergebenen regelt. Er scheidet diese Gerechtigkeit mit Aristoteles wieder in eine „verteilende“ und „austauschende“; die eine regelt den rechtlichen Verkehr der Personen, die andere bewirkt in Verträgen und Abmachungen den Austausch der Güter.

Die besondere Gerechtigkeit empfängt ihre Norm durch das Naturrecht und das geltende Recht. Das Verhältnis beider zu einander wird so bestimmt, daß das zweite aus dem ersten abgeleitet ist, aber so, daß die zufälligen, seine Entstehung bedingenden äußeren Ursachen bei seiner Formgebung mitwirken. Aus diesem Grunde ist

das geltende Recht nicht unveränderlich, bedarf auch mehrfach der Ergänzung durch das Naturrecht. Bei der Besprechung der zuteilenden Gerechtigkeit hat Melanchthon die Ziele und Aufgaben der menschlichen Einrichtungen, der politischen Gewalt, ihre Stiftung und Machtbefugnis klar, eindringend und mit Feinsinn dargestellt. Auch die Frage vom Widerstand gegen die Obrigkeit wird so behandelt, daß man den ganzen Mann vor sich zu sehen meint; die Zulässigkeit des Tyrannenmordes bei offenbarer schrecklicher Greuelthat wird bejaht und auf Geßler und Tell verwiesen. Weniger befriedigt die Darstellung der „austauschenden" Gerechtigkeit, doch weiß Melanchthon auch hier die in Betracht kommenden Fragen durch die reformatorischen Grundgedanken vom Werte und der Notwendigkeit der Arbeit und vom Rechte des Besizes zu erhellen und aus ihnen abzuleiten.

Es sind keine bahnbrechenden Gedanken, die Melanchthon verkündet. Aber es läßt sich doch nicht bestreiten, daß sie einem harten, ernüchterten Geschlecht die schlichten, wahren, wenn auch nirgends tiefen Anweisungen zu sittlichem Thun überliefern. Und auch in der Geschichte der Ethik selbst gebührt Melanchthon ein Ehrenplay. Was er giebt, ist keine theologische Ethik, wie man lange gemeint hat. Wohl geht Melanchthon auch hier von religiösen Gedanken aus. Aber das darf uns nicht darüber täuschen, daß er troßdem den Ertrag der natürlichen Kräfte des Menschen zusammenfassen will. Insofern fann es nicht zweifelhaft sein, daß wir es mit einer philosophischen Ethik zu thun haben; ja in der Art, in der Melanchthon zuweilen die Kräfte des Menschen wie fast ungebrochen behandelt, tritt deutlich sein Bestreben hervor, seinen Gegenstand ganz voraussetzungslos aus seinen natürlichen Bedingungen abzuleiten. Andererseits wird man freilich zugeben müssen, daß durch die fortgesetzten Beziehungen auf die religiösen Grundgedanken die Absicht Melanchthons zuweilen verdunkelt wird. Aber der Schritt von diesen Aufstellungen zu einer ganz selbständigen philosophischen Ethik war doch durch Melanchthons Arbeit so weit vorbereitet, daß er nicht die geringsten Schwierigkeiten mehr bot.

Melanchthons Ethik giebt auch, wie aus den Ausführungen über die besondere Gerechtigkeit zu ersehen war, über seine wichtigsten rechtswissenschaftlichen Anschauungen Aufschluß. Denn auch der juristischen

Wissenschaft hat Melanchthon lebhafte Teilnahme zugewendet. Vor allem fesselte ihn das römische Recht, das ihm in seiner großartigen Folgerichtigkeit, Einheitlichkeit und Geschlossenheit wie eine Art von Philosophie erschien. Er ist daher schon 1525 (in der Rede über die Geseze, vgl. S. 218) für das römische Recht eingetreten und hat seine außerordentlichen Vorzüge den „barbarischen Volksrechten“ gegenüber lebhaft hervorgehoben. Auch später hat er sich fortgesetzt in ähnlicher Weise ausgesprochen; er hat sich auch immer eingehend mit dem römischen Recht beschäftigt, und in den von ihm geprägten Formeln über das Gesetz ist der Einfluß dieser Studien nicht zu verkennen.

Die grundlegenden juristischen Anschauungen Melanchthons sind bereits berührt. Das Naturrecht ist ihm die Summe der von Gott dem Menschen eingepflanzten Anlagen. Aus dem Naturrechte ist das geltende Recht abgeleitet. Es hat die Aufgabe, die allgemeinen Vorschriften des Naturrechtes durch die aus den besonderen Verhältnissen eines Landes oder Volkes entspringenden näheren Bestimmungen zu ergänzen. Daraus ergiebt sich von selbst, daß das geltende Recht mit den es bedingenden Verhältnissen steht und fällt, also vergänglich ist, während das Naturrecht als ein unverlierbarer Besiz der Menschen= natur dauernden Bestand hat.

Es ist nun Melanchthon freilich nicht gelungen, das Naturrecht aus seinen Quellen abzuleiten. Wie ihm häufig physisches Sein und Sittlichkeit ineinanderfließen, so weiß er auch die Moral von dem Recht nicht scharf zu trennen. Das tritt nicht allein in den Ausführungen der Ethik hervor, sondern zeigt sich auch, wenn er einzelne Rechtsfragen in volkstümlicher Weise behandelt. Schon oben ist darauf hingewiesen, daß der Haupthinderungsgrund für eine Erfassung dieser Fragen in der Gleichung zwischen göttlichem Gesez und Naturgesetz zu suchen ist.

Steht Melanchthon also in der Hauptsache noch der Scholastik nahe, so ist er doch andererseits auch auf diesem Gebiete weit über sie hinausgekommen. Es zeigt sich in diesen Betrachtungen ebenfalls der große Vorzug einer Betrachtung, die überall von den natürlichen Anlagen der Menschennatur auszugehen sucht. Und nicht minder fördernd ist die Klarheit und Übersichtlichkeit, womit die Hauptthatsachen hier auf wenige Grundsäge zurückgeführt werden.

Troß der Beibehaltung jener Vermischung des natürlichen Rechtes mit den zehn Geboten hat doch Melanchthon der Trennung zwischen beiden Gebieten auf das wirksamste vorgearbeitet.

Der nahe Zusammenhang zwischen Ethik und Geschichte wurde schon hervorgehoben; Melanchthon betrachtete die Geschichte als eine Art Beispielsammlung zur Ethik oder als eine angewandte Sittenlehre. Diese von der Scholastik ganz vernachlässigte, von dem Humanismus wieder zu Ehren gebrachte Wissenschaft wurde von Melanchthon schon frühzeitig in ihrem Werte anerkannt (1518); Simler und vielleicht auch der Wimphelingsche Kreis mögen die ersten Anregungen dazu gegeben haben. Melanchthon hatte eine klare Vorstellung von den Aufgaben der Geschichtsschreibung; er verlangte eine sorgfältige Auswahl des Stoffes, Begründung der Ereignisse aus den Persönlichfeiten und Zuständen heraus und eine übersichtliche, lichtvolle Gruppierung des unter diesen Gesichtspunkten gewonnenen Stoffes. Die Bedeutung der Geschichtsschreibung erörtert er in dem gleichen Sinne, in welchem er den Wert der einzelnen Wissenschaften zn bestimmen pflegt; ihr kommt ein sittlicher Nußen zu, da sie die Hochschätzung der Tugend und den Abscheu vor dem Laster durch lebendige Beispiele zu erwecken weiß, ein religiös-theologischer, weil sie zur Gottesfurcht hinleitet, auch die Entscheidung kirchlicher Streitigkeiten ermöglicht, und schließlich ein politischer als die beste Vorschule für den Staatsmann — das Lezte ein im sechzehnten Jahrhundert überaus häufig vorkommender Gedanke, der sich sowohl bei Luther wie bei Macchiavelli findet. Namentlich die beiden ersten von Melanchthon angeführten Beweise sind für seine Auffassung von Wichtigkeit; sie gründen sich nämlich auf Melanchthons Überzeugung, daß die Geschichte ein Zeugnis von dem ewigen Ratschluß Gottes über das Menschengeschlecht und seine Bestimmung liefert. Ganz im Sinne der humanistischen Auffassung der Geschichte ist die Bevorzugung des eigenen Vaterlandes; Wimpheling, Pirkheimer, Celtis und andere hatten Melanchthon die Wege gewiesen. Aber Melanchthon weiß doch auch hier die Notwendigkeit des Betriebes der eigenen Geschichte auf die allgemeinen Anlagen der Menschennatur zu gründen: aus dem Heimats- und Familiengefühl versteht er die Freude an der vaterländischen Geschichte abzuleiten. Auch über die Notwendigkeit einer ausgiebigen Quellenbenußung äußert Melanchthon

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