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eine bestimmte Richtung gewiesen hatten. Aber im wesentlichen schätzte er doch alles außer ihm Liegende seinem Werte nach an dem ab, was sich in seiner Entwickelung als die Hauptsache herausgestellt hatte. So sind seine kühnen Werturteile über die einzelnen biblischen Bücher und über die verschiedene Bedeutung der Kirchenväter zu erklären. So kam es auch, daß er sich vor Allem zu Augustin hingezogen fühlte; hier war eine Persönlichkeit, die in ähnlicher Weise wie Luther selbst die Offenbarung aufnahm, sie unter tiefen seelischen Kämpfen verarbeitete und sie in einer Weise neu aus sich heraus gebar, die überall das Gepräge der höchst persönlichen Erfahrung trug. Hieronymus dagegen stieß ihn ab, weil dieser ein Augustin ganz entgegengeseztes Verfahren einschlug und von außen nach innen drang, indem es ihm zunächst auf die Ergründung des Wortsinnes und das sachliche Verständnis der Schrift ankam. Und gerade die Bevorzugung des Hieronymus durch Erasmus war eine der Thatsachen, die Luther an dem großen Humanisten auszuseßen hatte und in denen sich der tiefe Gegensaß zwischen den beiden Männern gleichsam symbolisch verkörperte; mit dem Instinkt der Abneigung spürte Luther eine innere Wesensverwandtschaft zwischen Erasmus und Hieronymus, wie er denn den großen Kirchenvater später gelegentlich auch mit einem weniger bekannten Humanisten, mit Joh. Altenstaig, verglichen hat. Gerade nach dieser Richtung hin rief nun zunächst Melanchthons Einfluß eine, allerdings nicht bleibende Änderung in den Anschauungen des Reformators hervor. Während Luther innerlich unverrückt seinen Weg verfolgte, hat er doch äußerlich unzweifelhaft seinen Standpunkt etwas geändert.

Zunächst trat das in der großen Wertschäßung zu Tage, die er für die sprachlichen Studien an den Tag zu legen begann, und in dem Eifer, mit dem er sich ihnen unter Melanchthons Leitung widmete. Die griechischen Studien nahmen eine Zeit lang seine ganze Teilnahme in Anspruch; wie stolz er auf die neuerworbenen Kenntnisse war, zeigt die Art, in der er (Januar 1519) ganz nach humanistischer Art griechische Floskeln in seine lateinischen Briefe einflicht und wie er in derselben Zeit seine Briefe an Spalatin und Karlstadt mit Citaten aus der Ilias schmückt. Sehen wir in diesen Äußerlichkeiten, die er allerdings sehr schnell wieder abgelegt hat, Luther sich unzweifelhaft Ser humanistischen Art etwas annähern, so scheint er auch in anderer

Beziehung durch Melanchthons Einfluß gewisse humanistische Grundgedanken aufgenommen zu haben. Im Mittelpunkte aller humanistischen Bestrebungen stand die Erschließung und Benuzung der Quellen ; in jener bereits angeführten Stelle aus der Vorrede zu seiner Rhetorik rühmt Melanchthon, daß Erasmus zuerst nach dem Urteile der Gelehrten die Theologie zu den Quellen zurückgeführt habe". Man kann nicht sagen, daß Luther bisher diesen Gedanken von der Notwendigkeit des Zurückgehens auf die Quellen irgendwie grundsäglich betont hätte; erst durch Melanchthon, der dann ganz folgerichtig auch die Alleinverbindlichkeit der heiligen Schrift früher als Luther hervorhebt, scheint er in seinen Gesichtskreis getreten zu sein. So schreibt er denn auch in dieser Zeit des vorwiegenden Einflusses Melanchthons (9. Dezember 1518) über die beabsichtigte Universitätsreform an Spalatin, daß anstatt des nußlosen Betriebes einzelner scholastischer Lehrfächer jezt „die reine Philosophie und Theologie, sowie alle mathematischen Wissenschaften in ihren Quellen (aufgesucht und] ausgeschöpft werden sollten“.

Am deutlichsten indessen läßt sich vielleicht der Einfluß Melanchthons und die Einwirkung des Humanismus an Luthers Kommentar zum Galaterbrief beobachten. Dieser scheint zwar in seinen Grundzügen schon früher entworfen gewesen zu sein; die entscheidende Umarbeitung in der er uns jezt vorliegt, ist indessen gerade in den ersten Monaten des Jahres 1519 vollzogen worden. Vergleicht man nun dieses Werk mit den früheren ähnlichen Arbeiten Luthers, so läßt sich ein großer Unterschied nicht verkennen. Daß das Hauptgewicht auf der dogmatischen Erklärung des Briefes beruht, versteht sich natürlich im 16. Jahrhundert von selbst. Daneben aber finden wir in diesem Kommentar eine Sorgfalt in der Beobachtung des Wortgebrauches und in der Erklärung des Wortsinnes, wie sie in den früheren gleichartigen Schriften Luthers sich nicht nachweisen läßt. Nicht allein, daß Luther genau die Bedeutung des einzelnen Wortes festzustellen sucht, daß er in Fällen, wo ihm der von der Vulgata angewendete Ausdruck den Sinn nicht völlig zu erschöpfen scheint, eine andere sprachliche Wendung vorschlägt oder eine von Erasmus vorgeschlagene Übertragung annimmt er achtet auch sorgfältig auf Stil und Schreibweise des Apostels und sucht die so gewonnenen Beobachtungen zur Aufklärung schwieriger Stellen zu benußen. Zu

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weilen erweitern sich derartige grammatische Betrachtungen über den Sinn einzelner Stellen zu förmlichen Exkursen, und es ist im höchsten Grade bezeichnend, daß Luther bei der Neuherausgabe des Kommentars im Jahre 1523 die meisten dieser umfangreichen Auslegungen strich ebenso wie manches andere, was an die Zeit erinnerte in der der Humanismus seine erste nachdrückliche Wirkung auf ihn ausübte. Recht bezeichnend ist es auch, daß jezt der h. Hieronymus etwas mehr bei Luther zur Geltung kommt und zuweilen Augustin gegenüber sich im Vorteil befindet; auch das hing offenbar mit der Anerkennung der Bedeutung des äußeren Verständnisses der Schrift zusammen. Mehrfach wird die Auffassung Augustins als unsicher und gezwungen bezeichnet und die Meinung des Hieronymus ihr vorgezogen; auch hier hat Luther bei der Ausgabe von 1523 seine Äußerungen entweder vollständig oder doch soweit sie einen Gegensatz zu Augustin ausdrückten, gestrichen. Überall sieht man jedenfalls in dem Kommentar, wie sehr es Luther auch um das Verständnis des Wortsinnes zu thun ist; erst wenn bei einer Stelle ein grammatischer Grund nicht ersichtlich ist“, sucht er selbst eine Auslegung zu finden. Daß diese Wendung Luthers in der Behandlung des Schrifttextes auf Melanchthon zurückzuführen ist, würde schon ohnehin wahrscheinlich sein; bestätigt wird es durch die schon oft hervorgehobenen Worte, die Luther in dem Kommentar zu Melanchthons Preise einflocht. Diese Stelle, in der Luther erklärt, daß das Ansehen Melanchthons „eines Jünglings dem Alter, eines Greises_der_bewunderungswürdigen Reife seines Geistes nach" ihn zur Änderung seiner Auffassung eines in dem Briefe verwendeteten Ausdrucks bewogen habe, läßt einen Schluß auf die Einwirkung zu, die Melanchthon nach dieser Richtung hin auf Luther ausgeübt hat.

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Kann somit kein Zweifel sein, daß Luther die Bedeutung, die die von dem Humanismus geschaffene philologische Methode und ihre wissenschaftlichen Hilfsmittel für die Theologie gewinnen konnten, jezt in ganz anderer Weise zu würdigen begann als früher und sie sich in seiner Weise aneignete, so fing er auch unter Melanchthons Einfluß an, der ganzen geistigen Richtung mehr Anteil zu schenken und ihr mit freundlichem Wohlwollen gegenüberzutreten. Es war natürlich, daß dabei zunächst der Hauptvertreter des Humanismus Erasmus in Betracht kam. Wir wissen, wie stark Luther den inneren Gegen

sah zu der Denk- und Anschauungsweise des Erasmus empfunden hatte. Jezt, wo er selbst kurze Zeit wenigstens auf einem Felde in seinen Bahnen zu gehen suchte, wird es Melanchthon nicht schwer ge= worden sein, bei der gemeinsamen Besprechung neutestamentlicher Stellen Luther darzuthun, wie sehr das Verständnis der Schrift durch Erasmus gefördert worden war. Dazu kam noch etwas anderes. Mancherlei von Erasmus war Luther bekannt, aber wir wissen doch nicht, in welchem Maße er von dem kirchlichen Reformprogramm des Humanisten Kenntnis hatte. Man wird annehmen dürfen, daß Melanchthon ihn auf die vielen Übereinstimmungen zwischen ihm und Erasmus hingewiesen hat. Je ernster sich Luthers Angelegenheit überdies gestaltete, desto mehr fühlte man in Wittenberg, wie günstig die Bundesgenossenschaft eines so großen Mannes für Luther sein würde. Und Melanchthon selbst glaubte bestimmt, daß es auch in Erasmus' Absicht liege, gemeinsam mit Luther gegen die Mißbräuche der Kirche vorzugehen. Anfangs 1519 erschien die bereits 1518 abgeschlossene „Methode, zur wahren Theologie zu gelangen“ des Erasmus ein Büchlein, das uns den großen Mann nicht von einer neuen Seite zeigt, das aber die Hauptgedanken einer antischolastischen, auf Schrift und Kirchenväter gegründeten Theologie, wie sie Erasmus vorschwebten, anschaulich, klar und übersichtlich zum Ausdruck brachte. Außerdem hatte allerdings Erasmus an zwei Stellen der Arbeit mit einer ihm sonst fremden Schärfe die Bekehrung des Menschen allein auf Gottes Gnade zurückgeführt; dies macht es erklärlich, daß man zu Wittenberg darin das Zeichen einer Annäherung des Erasmus an Luther sah. Dieser selbst berichtete

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Spalatin von dem Erscheinen des Buches (13. März 1519), an demselben Tag schreibt auch Melanchthon an den gleichen Freund: „Froben (der Verleger) hat uns ein Buch des Erasmus, die theologische Methode, geschickt, in dem jener berühmte Mann vieles, was mit Martin übereinstimmt, gerade wohl deshalb berührt hat, weil es übereinstimmt; und er spricht sich über solche Punkte um so freimütiger aus, weil er nun einen Mitstreiter bei der heiligen und wahren Lehre hat." Deutlicher können wohl die Hoffnungen, die man in Wittenberg auf Erasmus sezte, nicht ausgesprochen werden. Unter dem Eindruck aller dieser Verhältnisse vergaß Luther einen Augenblick die abgrundtiefe Kluft, die ihn von dem Standpunkt des Erasmus trennte,

und die, genau genommen, ebenso groß war wie das, was ihn von der Scholastik schied. Im Kommentar zum Galaterbrief benut er jede Gelegenheit, um seine Bewunderung für Erasmus an den Tag zu legen; und auf Melanchthons Betreiben, der ihn schon früher veranlaßt hatte, einen ehrerbietigen Brief an Reuchlin zu richten (14. Dez. 1518), schrieb er jezt auch (28. März 1519) an Erasmus. Aber es handelte sich nur um eine vorübergehende Neigung Luthers, wenn er auch manche Errungenschaften aus dieser Zeit sich als bleibendes Besißtum bewahrt hat. Schien es einen Augenblick, als ob Melanchthon Luther dem Humanismus nahe bringen würde, so zeigten sich vielmehr gerade in den Tagen, in denen Luther an Erasmus schrieb, die ersten ausgeprägten Zeichen jener Entwickelung, die Melanchthon mit außerordentlicher Schnelligkeit vom Humanismus zur Reformation führte. Während er noch glaubte, mit Erasmus zusammen ins Feld ziehen zu können, war er innerlich über dessen Standpunkt schon weit hinausgewachsen. Dafür zeugen die Worte, die er im März 1519 in der Vorrede zu Luthers Psalmenerklärung schrieb: „Was nüßt es zu wissen, daß die Welt von Gott geschaffen, wenn du nicht die Barmherzigkeit und Weisheit des Schöpfers verehrst? Ferner, was hülfe es zu wissen, daß Gott barmherzig und weise ist, wenn du dir nicht zu Gemüte führst, daß er dir barmherzig, dir gerecht, dir weise ist. Das heißt wahrhaft Gott erkennen; aber diese zum Ziele dringende Art der Gotteserkenntnis erreicht nicht die Philosophie, sie ist ein Eigentum der Christen." Wie sehr diese Worte Luthers eigenste Gedanken wiedergeben, ist leicht zu sehen; es wird noch klarer, wenn man jene schon erwähnte (vgl. S. 49) Stelle aus Luthers Kommentar zum Galaterbrief daneben hält, deren Einwirkung auf Melanchthon wir auch sonst nachweisen können.

Es ist gewiß nicht leicht, aus einer einzigen zufällig erhaltenen Äußerung Schlüsse über geistige Vorgänge zu ziehen; aber hier spricht außer dem Zeugnis doch auch noch die innere Wahrscheinlichkeit mit. Für den Humanisten war der nächste Berührungspunkt mit Luther die Persönlichkeit, und wir werden es daher leicht verständlich finden, daß auch dem Humanisten Melanchthon von hier aus sich zuerst das Verständnis von Luthers Gedankenwelt erschloß. Indem er nun aber den Glauben als innere Erfahrung (practica notitia) im Gegensatz zum äußeren Wissen (historica cognitio) erfaßte,

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