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ZWEITER ODER HAUPTTEIL.

DIE SEXUELLEN TYPEN.

I. Kapitel.

Mann und Weib.

All that a man does is physiognomical of him.<

Carlyle.

Freie Bahn für die für die Erforschung Geschlechtsgegensatzes ist durch die Erkenntnis geschaffen, daß Mann und Weib nur als Typen zu erfassen sind, und die verwirrende Wirklichkeit, welche den bekannten Kontroversen immer neue Nahrung bieten wird, allein durch ein Mischungsverhältnis aus jenen zwei Typen sich nachbilden läßt. Die einzig realen sexuellen Zwischenformen hat der erste Teil dieser Untersuchung behandelt, und zwar, wie nun hervorgehoben werden muß, nach einem etwas schematisierenden Verfahren. Die Rücksichtnahme auf die allgemein biologische Geltung der entwickelten Prinzipien führte das dort mit sich. Jetzt, da, noch viel ausschließlicher als bisher, der Mensch das Objekt der Betrachtung werden soll und die psychophysiologischen Zuordnungen der introspektiven Analyse zu weichen sich anschicken, bedarf der universelle Anspruch des Prinzipes der sexuellen Zwischenstufen einer ge wichtigen Restriktion.

Erforschung alles wirklichen

Bei Pflanzen und Tieren ist das Vorkommen des echten Hermaphroditismus eine gegen jeden Zweifel erhärtete Tatsache. Aber selbst bei den Tieren scheint oft das Zwittertum mehr eine Juxtaposition der männlichen und weiblichen Keimdrüse in einem Individuum als ein Ausgeglichensein beider Geschlechter in demselben, eher ein Zusammensein beider Extreme denn einen gänzlich neutralen Zustand in der Mitte zwischen denselben zu bedeuten. Vom Menschen jedoch läßt sich psychologisch mit vollster Bestimmtheit be

Weininger, Geschlecht und Charakter. 2 Aufl..

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haupten, daß er, zunächst wenigstens in einer und derselben Zeit, notwendig entweder Mann oder Weib sein muß. Damit steht nicht nur im Einklang, daß fast alles, was sich für ein Masculinum oder Femininum schlechtweg hält, auch sein Komplement für »das Weib oder den Mann schlechthin ansieht.') Es wird jene Unisexualität am stärksten erwiesen durch die in ihrer theoretischen Wichtigkeit kaum zu überschätzende Tatsache, daß auch im Verhältnisse zweier homosexueller Menschen zueinander immer der eine die körperliche und psychische Rolle des Mannes übernimmt, im Falle längeren Verkehres auch seinen männlichen Vornamen behält oder einen solchen annimmt, während der andere die des Weibes spielt, seinen weiblichen Vornamen entweder bewahrt oder einen solchen sich gibt oder noch öfter dies ist bezeichnend genug ihn vom anderen erhält.

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Also es füllt in den sexuellen Relationen zweier Lesbierinnen oder zweier Urninge immer die eine Person die männliche, die zweite die weibliche Funktion aus, und dies ist von größter Bedeutung. Das Verhältnis Mann-Weib erweist. sich hier als fundamental an der entscheidenden Stelle, als etwas, worüber nicht hinauszukommen ist.

ist der

Trotz allen sexuellen Zwischenformen Mensch am Ende doch eines von beiden, entweder Mann oder Weib. Auch in dieser ältesten empirischen Dualität steckt (nicht bloß anatomisch und keineswegs im konkreten Falle in regelmäßiger genauer Übereinstimmung mit dem morphologischen Befunde) eine tiefe Wahrheit, die sich nicht ungestraft vernachlässigen läßt.

Hiemit scheint nun ein Schritt gemacht, der von der größten Tragweite ist, und allem Ferneren so segensreich wie verhängnisvoll werden kann. Es ist mit einer solchen An

1) Auf den Anblick einer bisexuell funktionierenden Schauspielerin mit leichtem Bartanfluge, einer tiefen sonoren Stimme und fast ohne Haare auf dem Kopfe habe ich einen bisexuellen Mann ausrufen hören: »Ja, das ist ein Prachtweib!« »Das Weib ist eben für jeden ein anderes und doch dasselbe, im Weibe hat noch jeder Dichter Verschiedenes und doch ein Gleiches besungen.

schauung ein Sein statuiert. Die Bedeutung dieses Seins zu erforschen ist freilich eben die Aufgabe, welche der ganzen folgenden Untersuchung anheimfällt. Da aber mit diesem problematischen Sein an die Hauptschwierigkeit der Charakterologie unmittelbar gerührt ist, wird es gut sein, ehe daß eine solche Arbeit in naiver Kühnheit begonnen werde, über dieses heikelste Problem, an dessen Schwelle aller Wagemut bereits stockt, eine kurze Orientierung zu versuchen.

Die Hemmnisse, mit denen jedes charakterologische Unternehmen zu kämpfen hat, sind allein schon wegen der Kompliziertheit des Stoffes enorme. Oft und oft ereignet es sich, daß der Weg, den man durch das Waldesdickicht bereits gefunden zu haben glaubt, sich verliert im undurchdringlichen Gestrüppe, der Faden nicht mehr herauszulösen ist aus der unendlichen Verfilzung. Das schlimmste aber ist, daß betreffs der Methode einer systematischen Darstellung des wirklich entwundenen Stoffes, anläßlich der prinzipiellen Deutung auch erfolgreicher Anfänge, sich wieder und wieder die ernstesten Bedenken erheben und gerade der Typisierung sich entgegentürmen. In dem Falle des Geschlechtsgegensatzes z. B. erwies sich bis jetzt die Annahme einer Art Polarität der Extreme und unzähliger Abstufungen zwischen denselben als die einzig brauchbare. Es scheint so auch in den meisten übrigen charakterologischen Dingen auf einige komme ich selbst noch zu sprechen Polarität zu geben (was schon der Pythagoreer Alk maion von Kroton geahnt hat); und vielleicht wird auf diesem Gebiete die Schelling sche Naturphilosophie noch ganz andere Genugtuungen erleben als die Auferstehung, welche ein physikalischer Chemiker unserer Tage ihr bereitet zu haben vermeint.

etwas wie

Aber ist die Hoffnung berechtigt, durch die Festlegung des Individuums auf einem bestimmten Punkte in den Verbindungslinien je zweier Extreme, ja durch unendliche Häufung dieser Verbindungslinien, durch ein unendlich viele Dimensionen zählendes Koordinatensystem das Individuum selbst je zu erschöpfen? Verfallen wir nicht, nur auf einem

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