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gehabt hat, verschieden sowohl nach dem behandelten Stoff als auch durch Stil und Lebensauffassung. Denn die VII—IX. und die X-XIV. Satire setzen eine wesentlich verschiedene Stimmung und Anschauung voraus. Ein solcher Wechsel der Auffassung und der Behandlung ist in einem so hohen Alter geradezu eine Unmöglichkeit.

§ 5.

Es gibt, wie mir scheint, für die annähernde Bestimmung der Lebenszeit Juvenals eine Grenze nur in der Thatsache, dass der Dichter die Regierungszeit Domitian's mit vollem und klarem Bewusstsein durchlebt hat. Denn für diese Zeit, die den Inhalt der Satiren bildet, ist diese Annahme eine Nothwendigkeit1). Die Zeit Nero's spielt keine so grosse Rolle, dass man auch für sie dasselbe voraussetzen müsste. Wer dies wollte, müsste auch annehmen, dass Juvenal bereits die Zeit des Tiberius im kräftigen und selbständigen Jünglingsalter durchlebt hat). Diese Zeiten konnte Juvenal ebenso wie Tacitus theils durch mündliche Tradition theils durch schriftliche Darstellungen kennen lernen, und er besass Phantasie genug, sich mit Lebhaftigkeit in die Zustände dieser jüngsten Vergangenheit zu versetzen.

Nehmen wir an, dass er etwa 57 n. Chr. geboren ist, so sind alle erwähnten Missstände beseitigt. Er durchlebte dann die Regierungszeit des Domitian in einem Alter von 24-39 Jahren, reifte also unterdessen vom Jüngling zum vollkräftigen Manne heran, und begann seine Schriftstellerei mit dem 44. Lebensjahr, so dass er 59 oder 60 Jahr alt die sechste Satire herausgegeben und zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr allerdings noch die Möglichkeit eines Wechsels der Lebensanschauung und einer Aenderung der Stilart gehabt hätte3).

§ 6.

Decimus Junius Juvenalis war also etwa um das Jahr 57 n. Chr. zu Aquinum im Volskerlande geboren1). Von seinen

§ 5.

1) Dies hat besonders Teuffel mit Recht betont. Vgl. A. Widal, Juvénal et ses Satires. Paris 1870, p. XIV: c'est le siècle de Domitien, c'est l'universelle perversité romaine sous cet effroyable tyran, qu' attaque et que stigmatise notre poëte. 2) Zu dieser Annahme ist Bauer gelangt, weil er glaubte, Juv. müsse den X 56 sq. geschilderten Sturz des Seianus mit Augen gesehen haben. So würde Juvenal ein lebendigeres exemplum vitae a cornice secundae als Nestor (X 247)! 3) Widal freilich lässt Juvenal im Jahr 47 geboren werden und ihn dann doch als Vierziger unter Traian zu schreiben anfangen.

§ 6.

1) Sat. III 319: quotiens te Roma tuo refici properantem reddet Aquino.

Eltern wissen wir nichts weiter, als dass der Vater dort eigenen Grund und Boden besessen hat2). Das Praenomen Decimus kommt in der gens Iunia öfter vor und der Gentilname neben dem Vornamen und Zunamen berechtigt zu dem Schluss, dass der Vater des Juvenalis ein freier römischer Bürger war3). Dass er aus niederem Stande war, kann aus einzelnen Stellen der Satiren des Sohnes nicht geschlossen werden). Eher ist der umgekehrte Schluss erlaubt, dass bereits der Vater ein angesehener Mann in Aquinum gewesen sein muss, weil der Sohn die höchsten Aemter der Municipalstadt bekleidet hat5). Ob aber bereits der Vater die Ritterwürde besass, oder ob diese erst der Sohn durch militärische Leistungen sich erwarb, wissen wir nicht. Die erstere Annahme hat indessen mehr Wahrscheinlichkeit). Denn vergleicht sich auch Juvenal nirgends mit den Reichen und Vornehmen Roms, so erwähnt er doch nicht ohne einen gewissen Stolz sein väterliches Besitzthum7) und blickt mit Verachtung auf den Ritter Cinnamus, der ihm einst (dem Rittersohne?) den Bart geschoren hat).

Auf eine gewisse Wohlhabenheit des Vaters lässt auch die Erziehung des Sohnes schliessen, wodurch dieser sich den gebildetsten Männern Roms glaubte gleichstellen zu dürfen). Er genoss in Rom nach der Sitte der Zeit zuerst den Unterricht eines Grammatikers, dann besuchte er die vornehmere Rhetorschule. In der That zeigt sich Juvenal in seinen Satiren als einen ächten Schüler der Rhetorik: er beherrscht die Kunst der inventio und elocutio, Sprache und Metrik, Mythologie und Geschichte, Rechtskenntniss und Philosophie, ohne etwa mit diesem Wissen mehr zu prunken als es sonst Sitte der rhetorisch gebildeten Zeit war 10).

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Den weiteren Verlauf seiner Bildungsgeschichte kennen wir nicht. Nur so viel steht fest, dass Juvenal in vertrauter

2) VI 57 vivat Fidenis et agello cedo paterno. 3) Dagegen Vita I u. II: libertini locupletis incertum filius an alumnus, IV: ordinis ut fertur libertinorum. 4) Aus I 101 und IV 98 ist nur zu schliessen, dass Juvenal nicht zur höchsten Röm. Aristokratie gehörte. Aus Mart. XII 21: dum per limina te potentiorum sudatrix toga ventilat erkennen wir auch nur, was selbstverständlich ist, dass es zu Rom potentiores gab und dass ihnen Juv. vielfach seine Aufwartung machen musste. 5) Er war Censor und Flamen divi Vespasiani, cf. Marquardt, Alterth. IV 425 n. 2920 u. Pauly's Encycl. VI 1, 363. 6) Juv. diente als tribunus militum wie die Söhne der Senatoren und Ritter. 7) VI 57. III 319. XI 56 sq. XII 89. 8) Vgl. zu I 24. 9) I 15. Die schola grammatici ist mit manum ferulae subduximus, die des Rhetor mit consilium dedimus Sullae etc. angedeutet. 10) XII 121: et qui nec cynicos nec stoica dogmata legit, dagegen: non Epicurum suspicit, dessen Schriften er also doch wohl gelesen hat.

Freundschaft mit Martialis gelebt1), dass er dem Statius vielleicht nicht sehr ferne gestanden) und wohl auch mit Quintilian in nähere Berührung gekommen ist3).

Ob Juvenal sich je um ein Staatsamt beworben hat, ist ungewiss. Sicher ist es, dass er als Tribunus im Römischen Heere gedient hat, wahrscheinlich unter Titus oder während der ersten Regierungszeit Domitians 4). Denn schon im Jahr 84 n. Chr. befand er sich wieder in Rom5). In seiner Vaterstadt bekleidete er das ehrenvolle Amt eines Censors) und wurde ausserdem zum Flamen des divus Vespasianus ernannt. Die erstere Würde hat er indessen gewiss nicht vor dem 40. Lebensjahr erlangt.

Nach einer Stelle des Martialis scheint es, als ob Juvenal sich eine Zeitlang unter Domitian der Beredtsamkeit gewidmet hat; ja der Ausdruck des Martialis zwingt zu der Annahme, dass Juvenal damals als Sachwalter aufgetreten ist, vielleicht eher in Aquinum als zu Rom selbst'). Eine solche Thätigkeit würde erst die Auszeichnungen erklären, welche Juvenal in seiner Vaterstadt erhalten hat.

§ 7.

1) Mart. VII 24: cum Iuvenale meo quae me committere temptas, quid non audebis, perfida lingua, loqui? Te fingente nefas Pyladen odisset Orestes, Thesea Pirithoi destituisset amor, Tu Siculos fratres et maius nomen Atridas et Ledae poteras dissociare genus. Bei Juv. dagegen findet sich Martial nicht erwähnt. Vgl. über die Vorwürfe, welche man Juv. wegen dieser Freundschaft in neuerer Zeit machte, Widal XXXVI sq. 2) VII 82. 3) VI 75. 280 VII 186 sq. 4) die Inschrift lautet: cere RI SACRVM || d. iuNIVS. IVVENALIS || trib. Cohi DELMATARVM || II. VIR QVINQ · FLAMEN || DIVI - VESPASIANI || VOVIT - DEDICAVitq VE SVA PEC., cf. sat. "III 318. 5) Dies ist zu schliessen aus Sat. IV, cf. Borghesi V 517; auch befindet sich im XIII u. XIV Buch Mart., welche 84 oder 85 ediert sind, kein Brief an Juv., weil beide, wie es scheint, zu Rom persönlich verkehrten. 6) d. h. er war duumvir quinquennalis, der mit seinem Collegen wie in Rom den Census zu halten und die Censusrollen nach Rom einzuschicken hatte; ferner hatte er die Aufsicht über die öffentlichen Gebäude und die Feststellung des Decurionen - Verzeichnisses. Vgl. auch Henzen Ind. 158. 7) VII 91: de nostro, facunde, tibi, Iuvenalis, agello Saturnalicias mittimus ecce nuces. Dieselbe Bedeutung hat facundus Iuv. XVI 45. Die Neueren begnügen sich, an die Thätigkeit des declamare zu denken, weil die Vitae bemerken: ad mediam fere aetatem declamavit animi magis causa quam quod scholae se aut foro praepararet. Aber die Entstehung dieser Notiz erklärt Vita IV: declamavit non mediocri fama, ut ipse scribit: 'et nos consilium dedimus Sullae'. Wollte man auch mit Widal erklären: c'est à dire, que devant auditoire de lettrés réunis chez lui, ou dans quelque salle de lectures publiques, il s'était livré à cette éloquence factice, so lässt sich aus der Behandlung von 'causes imaginaires' doch wahrlich nicht das stolze Prädikat facundus erklären.

88.

Die Regierung des Domitian, anfangs milde und vielverheissend1), wurde bald zur rücksichtslosesten und blutigsten Tyrannei). Die Härte und Grausamkeit, mit welcher dieser Fürst alles Edle unterdrückte, alle Regungen eines selbständigen Charakters zertrat3), die Ehre des Reiches und seiner vornehmsten Männer schändete1), die Stimme der Freiheit und des Geistes knechtete und fesselte 5), lastete wie es scheint ebenso schwer auf Juvenalis wie auf Tacitus. Beide zogen sich von dem öffentlichen Leben zurück und betrauerten in der Stille des Privatlebens die moralisch-politische Vernichtung der untergehenden Römerwelt). Juvenal nahm an dem Geschick seines Volkes lebhaften Antheil, aber wie Tacitus so vergass auch er die Menschheit über der Römerstadt, und in der Selbstentehrung oder Vernichtung der altrömischen Aristokratie erkannte er das grösste Unglück seiner Zeit"). Aber während Tacitus alle Schuld dem Kaiser allein zuschrieb und nur vorübergehend die ungeschickte Haltung der Aristokratie tadelt), sieht Juvenal den Grund alles Uebels in der socialen Verkommenheit der ganzen Römerwelt3). Von allen Seiten, von Unten und Oben, sieht er das Verderben hereinbrechen, überall findet er nur Sittenlosigkeit und Scheintugend, Stolz und Kriecherei, Herrschsucht und Charakterlosigkeit, Habgier und Verschwendung. Unter solchen Jammerzuständen bemächtigt sich der Seele gerade von tiefer angelegten Naturen eine Art von Pessimismus, welcher den hellen Hintergrund des Lebens vor dem sich breit machenden Laster vollständig verdunkelt 10). Zorn und Schmerz steigerte sich um so mehr, weil das gepresste Herz sich nicht öffnen konnte. Denn die Verzweiflung oder der

§ 8.

1) Suet. Dom. 9: inter initia adeo ab omni caede abhorrebat, ut edicere destinarit, ne boves immolarentur. Cupiditatis quoque atque avaritiae vix suspitionem ullam dedit, immo magna saepe non abstinentiae modo sed etiam liberalitatis experimenta. Genauer A. Imhof, T. Flav. Dom., Halle 1857, p. 35 sq. 2) Juv. IV 37. 49. 70. 80. 87. 146. 151 sq. 3) IV 84 sq. 4) IV 99. 5) Tac. Agr. 2. 6) Tac. Agr. 2: memoriam quoque ipsam cum voce perdidissemus, si tam in nostra potestate esset oblivisci quam tacere. 7) II 65 sq. wird den widernatürlichsten Ausschweifungen das Tragen eines unrömischen Gewandes an die Seite gestellt und 143 das Auftreten eines Vornehmen in der Arena noch schlimmer als jene Naturwidrigkeiten bezeichnet, cf. I 22 sq. VI 33 sq. Daher die Verfolgung der thätigen Griechen und der geschickten Freigelassenen! Arbeit ist für den ächten Römer eine Schande! Vgl. III 31 sq. 8) Dies bezeugt schon Agr. 3. 9) II 78: dedit hanc contagio labem et dabit in plures. I 149: omne in praecipiti vitium stetit. I 94. III 313 sq. VI 265. 286-300. 345. VIII 98 sq. XI 42. 120. XIII 28. 60 sq. 157. XIV 191. XV 159. 10) So erklären sich Uebertreibungen wie VI 29 sq., aber auch bittere Wahrheiten wie III 145. 164.

Pessimismus Juvenals war nicht todtes Hinbrüten oder stumpfe Resignation, sondern, wie bei Tacitus, lebendiger Zorn und Unwille, der jederzeit bereit ist loszuschlagen und dem hereinbrechenden Verderben sich entgegen zu stemmen). Des Tacitus Herz wird freilich wieder lebensfroh und hoffnungsvoll durch die glückliche Regierung des Nerva und Traian, sein Zorn gilt nur der Vergangenheit 12); Juvenals Zorn entladet sich auch wohl über die Vergangenheit, aber sie bleibt ihm immer ein Spiegel der Gegenwart. Die socialen Schäden, welche er bekämpft, die Lasterhaftigkeit und Unnatürlichkeit der gesellschaftlichen Zustände Roms konnten durch den Wechsel der Regierung nur wenig geändert werden 13).

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Und Juvenalis war nicht etwa der Mann, der wie Horaz mit Gemüthlichkeit und Humor begabt sich gemächlich auf sich selbst hätte zurückziehen und von dieser sicheren Warte aus über das thörichte Treiben der ihn umgebenden Welt lachen und spotten können1). Was ihn umgab, waren eben nicht Fehler und Thorheiten, es waren für die Anschauung des strengen Römers nur Verbrechen und Laster2). Ueber das Laster lässt sich jedoch nicht lachen, mit der Gemeinheit in Staat und Leben, wie sie Juvenal züchtigt, gibt es keine Versöhnung, lässt sich kein Pakt schliessen, man muss sie verwerfen verurtheilen verfluchen 3). Die einzige Möglichkeit, mit dieser Zeit auszukommen, wäre, sie zu ignorieren. Es fehlte auch nicht an Männern, welche auf diese Weise mit ihrer Zeit sich zurecht fanden1). Eben die Dichter, deren Herz und Sinn von der Wirklichkeit der Gegenwart erfüllt sein sollte, waren meistens dieser Realität entfremdet und lebten dafür, von der Sitte ihrer Kunst so geleitet, in den abgelegensten Gebieten der griechischen Fabelwelt, in der Unterwelt bei verstorbenen

11) I 30. 45. 51. 79: si natura negat, facit indignatio versum. 139. 159. 63: nonne libet medio ceras inplere capaces quadrivio? 12) Agr. 3: nunc demum rediit animus etc. 13) Vgl. I 158 u. 159 mit 170.

§ 9.

1) Pers. I 116: omne vafer vitium ridenti Flaccus amico tangit et admissus circum praecordia ludit, callidus excusso populum suspendere naso. 2) I 166: cui frigida mens est criminibus, tacita sudant praecordia culpa. 3) So urtheilte C. Fr. Naegelsbach. Dagegen vgl. Teuffel, Studien 419. Richtig auch Widal XLVI: mais la satire, par sa nature même, s'attache au mal, comme la comédie au ridicule; lui demander de faire la part du bien, ce serait peut-être lui demander ce qui n'est ni de son domaine ni de son essence; la satire vit de scandales et de vices, et non de vertu. 4) z. B. Statius, Valerius Flaccus, Quintilian und

Plinius.

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