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Erster Abschnitt.

Das historische Gaunerthum.

Erftes Rapitel.

A. Einleitung. Allgemeiner Begriff des Gaunerthums.

Bei der Häufung der social-politischen Fragen, deren Lösung der Gegenwart obliegt, wird nur der Geschichtsforscher, der die Ereignisse ruhig und in ihrem einfachen Verlaufe auffaßt, mit dem Glauben an die Macht der Ereignisse auch den Glauben an eine Volksnatur gewinnen und dadurch über jene Fragen und ihre Lösung sich klarer werden. Die Volksnatur ist ein Factor, der sich überall geltend gemacht hat, wie fein und künstlich auch die Formen gewesen sein mögen, in welche ihr Widerstand sich gekleidet hat. Als die deutsche Volksnatur ein tiefes Verständniß und eine reiche Sättigung in den Lehren des Christenthums gefunden hatte, war fortan die christliche Kirche integrirendes Eigenthum des Volks, und die schon vor jenem Eingang des Christenthums entwickelte Hierarchie bestand schon neben der Kirche fort. Als die künstlichen Formen des Lehnstaats die Freiheit der deutschen Volksnatur gefährdeten, flüchtete sich das deutsche Wesen in die Städte und that sich hier zum Bürgerthume zusammen, dessen Entwickelung die großartigste Erscheinung in der deutschen Geschichte und die Lehrschule für die Verwaltung größerer Staatsgruppirungen geworden ist. Je abgeklärter die Ansichten geworden, jemehr die hemmenden Formen der Hierarchie und des Lehnstaats Avé - Lallemant, Gaunerthum. I.

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geschwunden sind, desto mehr ist doch aber auch unser gesammtes social-politisches Leben wiederum einer complicirten Künstlichkeit verfallen, die sich am bedenklichsten darin manifestirt, daß wir uns der Einrichtung und des Bestandes einer Menge von Anstalten rühmen, welche das Siechthum unserer Zustände im Grunde mehr verhehlen als gründlich heilen. Das deutsche Bürgerthum ist eine sittliche Kraft, die nicht speculirt, sondern einfach die Integrität und den Schuß seiner Eristenz fordert, und daher dem maffiven Systeme der heutigen Polizei um so mehr abgeneigt ist, je weniger es dieses System auf die deutsche Eigenthümlichkeit berechnet findet. Eine Ausgleichung wird nur dann erreicht werden, wenn das Bürgerthum gründlich davon überzeugt wird, daß die Polizei dies sein Wesen und Verlangen erkannt hat und würdigt. Das wird der Polizei aber nur dann gelingen können, wenn sie einen ernsten Blick auf die Geschichte zurückwirft. Dies Zurückgehen ist jezt eine unabweisliche Nothwendigkeit geworden, namentlich seitdem der geniale Riehl in seiner „Naturgeschichte des Volkes" mit feiner Objectivität dem deutschen Volke seinen Bestand gezeigt hat, ohne bei dieser analytischen Operation die nächsten Mittel und Wege zu jenem Ziele nachgewiesen zu haben, das er in der Vision am Schluffe seines trefflichen Werkes vor Augen stellt.

Mit der Begründung der Städte und ihren gemeinheitlichen Verfassungen hatte die deutsche Polizei einen herrlichen Anlauf genommen. Das gedrängte Zusammenleben und die mannichfaltigen Berührungspunkte in den Städten forderten ein Verständniß und eine Ausgleichung der lebendig neben und durcheinander sich regenden Elemente. Sie forderten und schufen die deutsche Polizei in den Städten, als die vom deutschen Bürgerthum selbst zu seinem Schuße gewollte Ordnung. Man erstaunt nicht nur über die Natürlichkeit und den ethischen Gehalt jener alten städtischen Polizeieinrichtungen, sondern auch vorzüglich über die Klarheit, mit welcher in den deutschen Städten die Gemeindeeinrichtungen der italienischen Städte aufgefaßt wurden, und über die Objectivität, mit welcher das Fremdartige dabei ausgeschieden

ward und das Wesen seine analoge Anwendung und deutsche Einbürgerung fand. In dem langen schweren Kampfe mit den vielen künstlichen Formen des Lehnswesens und der Hierarchie, welche das deutsche Bürgerthum während des Mittelalters bestehen mußte, wurde allmählich auch seine Kraft herabgedrückt und vielfach gelähmt, und als am Schlufse des Mittelalters die deutschen Landesobrigkeiten, neben der stets machtlos gebliebenen Reichspolizei, selbständig die Landespolizei in die Hand nahmen, konnten sie mit dieser in der schweren Bedrängniß immer nur eine augenblickliche Nothwehr gegen den Wucher des Verbrechens üben, ohne auf ein System und dessen Begründung auf einem natürlichen Boden besondern Bedacht zu nehmen, obwol Nachweis und Muster dazu in den städtischen Polizeieinrichtungen gegeben war. Die Analogien des immer weiter vordringenden Römischen Rechts konnten den Ausfall nicht ersehen, und selbst, nachdem das Strafrecht eine so tüchtige rationelle Behandlung erfahren hat, mußte die bei Begründung der Städte so großartig begonnene und allmählich so tief herabgedrückte Polizei als die eigenthümliche Erscheinung stehen bleiben, daß sie stets nur die concrete Nothwehr gegen den momentanen Widerstand und in ihrer Composition nur die bloße gehäufte automate Masse ist, welcher der gedeihliche Boden und die natürliche Lebensfähigkeit fehlt.

Bei den fortwährenden Kämpfen, welche das deutsche Wesen mit den vielen künstlichen Formen des Lehnswesens und der Hierarchie bestehen mußte, ist es, wenn auch überraschend, doch erklärlich, daß das Verbrechen die durch den Kampf verursachte Schwäche zu erspähen und auszubeuten lernte und immer verwegener hervorzutreten unternahm. Die verbrecherischen Elemente waren schon früh in großer Menge vorhanden. Das aus dem Christenthum mittelbar hervorgegangene Bettlerthum, der durch Karl den Großen zur Leibeigenschaft verurtheilte Bauernstand bot schon zeitig die bedeutsame Grundlage des Proletariats, und bildete sich alsbald auch zu jener gefährlichen beweglichen Masse der,,Landtfahrer" oder Landstreicher aus, welche die öffentliche Sicherheit in der bedenklichsten Weise gefährdete und namentlich

in jener Zeit des Faust- und Fehderechts das Verbrechen als förmliches Gewerbe zu betreiben anfing. Dies gewerbliche Verbrechen trieb seinen wilden Wucher fort, bis es den überlegenen Widerstand fand. So bald dieser das Gewerbe überwältigt hatte, wurde es zur verbrecherischen Kunst, welche mit scharfem Blicke das bürgerliche Siechthum zu erkennen, seine wunden Stellen zu durchdringen und in den künstlichen Formen des bürgerlichen Lebens sich zu verstecken, sich in ihnen festzusehen und sie auszubeuten wußte. So entstand das deutsche Gaunerthum, als rationelles verbrecherisches Gewerbe, mit einer Repräsentation aus den verschiedenartigsten verbrecherischen Elementen, in der Gruppirung als Räuberthum, bei dem Mangel ausreichenden öffentlichen Schußes, mit offener Gewalt hervortretend; als eigen-. stes Gaunerthum in allen Formen des künstlichen bürgerlichen Lebens versteckt sich bewegend und die Gelegenheit der Schwäche erspähend.

Je verwegener das Gaunerthum aufgetreten ist, je größer der materielle und moralische Schaden ist, den es dem bürgerlichen Leben und dessen freier Bewegung zugefügt hat, desto eifriger ist die Polizei und Gesetzgebung bemüht, dies ungeheuere Polypengewächs, das sich an das ganze bürgerliche Leben gesezt hat, auszurotten. Es hat nicht an geistreichen und verdienten Männern gefehlt, wie Hönn, Weissenbruch, Rebmann, Pfister, Grolman, Brill, Schwencken, Falkenberg, Stuhlmüller, Wenmohs, Thiele u. s. w., welche reichen Stoff und werthvolle Analysen gegeben haben. Indessen ist die Darstellung des frechen und verwegenen Zusammenrottirens zu organisirten Räuberbanden oder der Taktik der jüdischen Gauner immer nur die aphoristische Darstellung fingulärer Formen und Gruppen, die allerdings sehr interessant und wichtig ist, in dieser Beschränkung aber den Ueberblick über die Entstehung und Fortentwickelung des Gaunerthums und über seine sittliche und social-politische Bedeutsamkeit vermissen läßt. Nur in dieser totalen Anschauung läßt sich das Gaunerthum verstehen, und dies sein Verständniß ist für die Gegenwart eine dringende Nothwendigkeit, damit man

nicht etwa allein aus dem unleugbar vorhandenen Nothstande der deutschen Polizei, sondern auch aus jener tief in das sittliche und social-politische Leben eingreifenden Bedeutsamkeit des Gaunerthums begreifen lerne, daß mit einer scharfen Fremden- und Paßpolizei und mit dem strengen Gensdarmendienst auf Landstraßen, Bahnhöfen und in Wirthshäusern nicht das Meiste und Beste abgethan ist, um dem Gaunerthum mit Nachdruck entgegenzutreten.

Zweites Kapitel.

B. Etymologische Ableitung des Wortes „Gauner".

Unter Gauner versteht man den Dieb und Betrüger, welcher den Diebstahl und Betrug gewerbsmäßig und nach bestimmten Kunstregeln betreibt. Das Wort Gauner, welches der Gaunersprache selbst durchaus fremd ist, wird verfchieden abgeleitet.

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Zunächst führt man die Schreibung Jauner und Gauner auf, und entscheidet sich für die eine oder die andere als die richtigere, ohne recht eigentlich weitere Gründe dabei anzugeben. Selbst Schäffer, welcher in seinem Abriß des Jauner- und Bettelwesens" beständig die Schreibung Jauner hat, erklärt nur kurzhin die Schreibung Gauner für die richtigere, indem er es von dem niedersächsischen Beiworte gau ableitet. Beide Schreibungen, Jauner und Gauner, haben jedoch ihre sehr bestimmte und unterschiedliche Ableitung und Bedeutung.

Das Wort Jauner ist jüdisch-deutschen Ursprungs. Schon ein flüchtiger Blick auf die jüdisch-deutsche Sprache überzeugt von der vorwiegenden Neigung dieses Idioms, die ursprünglich einfachen Vocale gedehnt und diphthongirt auszusprechen, und von der Leichtigkeit, mit welcher dies bei der Eigenthümlichkeit des jüdisch-deutschen Vocalismus möglich ist. So z. B. ist im Jüdisch-Deutschen haulechen (holchen, alchen), gehen, vom

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