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Viertes Capitel.

Die innere Verwaltung Rußlands während dieser Jahre; Speranslys universelle Thätigkeit; Umgestaltung des Ministeriums und der Behörden; Finanzen; Gesetzgebung; Unzufriedenheit der altrussischen und Leibeigenschafts-Partei; — ihre Intriguen gegen Speransky.

Biel war im Lauf der wenigen Jahre seit dem Tilsiter Frieden auch im Innern Rußlands geschehen. Als der Kaiser Alexander sich der Politik Napoleons anschloß, war es, wie an seiner Stelle erwähnt wurde, nicht seine Absicht gewesen etwa den Plänen seiner Jugend zu entsagen; es zeigte sich, daß er die Ausführung, so sehr ihn auch Krieg und auswärtige Angelegenheiten in Anspruch nehmen mochten, eben so wenig auf ruhigere Tage verschieben wollte. Selbst mitten im Kriege, im Drang der Ereignisse, sollte fort und fort die bessernde Hand angelegt werden.

Das schien sogar nothwendiger als je zuvor; denn so oft der Kaiser den Blick von den europäischen Angelegenheiten auf die eigensten seines Reichs, auf das Innere Rußlands wendete, mußte er Zustände gewahren, die von Tag zu Tag bedenklicher wurden, die er gewiß nicht ohne Sorge erwägen konnte, wenn er auch von der allgemeinen Unzufriedenheit, die sie hervorriefen, wohl nur wenig erfuhr.

Vor allem war die bodenlose Zerrüttung der Finanzen, die fast hoffnungslos erscheinen konnte, wohl geeignet den Landesherrn zu erschrecken. Man sah sie freilich als ein unvermeidliches und selbst als ein unverschuldetes Uebel an, herbeigeführt durch nothwendige Kriege. In welchem Grade sie von lange her, schon seit der Regierungszeit der Kaiserin Kas therina, durch sehr übel berechnete Maßregeln vorbereitet war, wie viel auch die gegenwärtige Regierung dazu beigetragen hatte, indem sie sich der verderblichen Handelspolitik Napoleons anschloß, davon wußte man sich nicht Rechenschaft zu geben. Aber wenn auch unvermeidlich und unverschuldet geachtet, wurden die Verhältnisse doch sehr drückend empfunden und man sah sich ängstlich nach Mitteln um, der gegenwärtigen Noth zu steuern und einer noch schlimmeren Zukunft vorzubeugen.

Auch darüber konnte sich der Kaiser nicht täuschen, daß die allgemeine Unredlichkeit und Käuflichkeit aller Beamten, aller Richter sich auch unter seinen

neuen Ministern von Tag zu Tage und bis zu einem kaum glaublichen Grade von Frechheit steigerte.

Ueberhaupt trat mit jedem Tage deutlicher hervor, daß alle Maßregeln, alle Anstrengungen seiner ersten Regierungsjahre rollkommen ohn mächtig geblieben waren.

Gleich der Kaiserin Katherina, wenn auch in weniger kühn-philoso phischer Weise, hatte auch er sich bemüht der Unsicherheit des Rechts in Rußland abzuhelfen. Die siebzigtausend Ukasen, die, seit den Zeiten des Zaren Alexey Michailowitsch erlassen, sämmtlich Geseßeskraft hatten, konnte niemand übersehen; es wußte niemand in diesem Chaos Bescheid, in dem sich rechtfertigende Gründe für die widersprechendsten Entscheidungen finden ließen. Was davon den Richtern bekannt wurde, die noch dazu nicht Rechtskundige waren und in der That kaum sein konnten, da ein wissenschaftliches Studium dieses form- und grenzenlosen Rechts gar nicht möglich war, das hing großentheils vom Zufall ab. Solche Verhältnisse gestatteten natürlich den Advocaten wie den Richtern mit einer kaum glaub lichen Dreistigkeit zu verfahren. Es ist noch in den späteren Regierungsjahren Alexanders der Fall vorgekommen, daß im Senat ein Prozeß auf die Autorität zweier Ukasen hin entschieden wurde, die der Advocat der einen Partei wörtlich anführte, die es aber gar nicht gab, wie später entdefi wurde. Zur Zeit der Entscheidung war es weder den Richtern noch selbst dem Advocaten der Gegenpartei eingefallen, an ihrem Dasein zu zweifeln.

Eine Commission unter dem Vorsiz des Grafen Sawadowsky, schen im Jahr 1801 gebildet, sollte nun Licht und Ordnung in dieses unver ständige Wirrsal bringen offenbar aber wußte niemand von den de maligen Rathgebern des Kaisers klar und bestimmt, was eigentlich geschaffen werden sollte. Ob es sich darum handele das bestehende, in den kaijer lichen Ukasen gegebene Recht zu sammeln und zu ordnen, in ein System zu bringen und von Widersprüchen zu reinigen, oder ob man auf the retischer Grundlage ein neues in sich folgerichtiges Rechtssystem ausarbeiten und darin von dem hergebrachten Recht Rußlands nur das aufnehmen wollte, was den leitenden Grundsäßen des Ganzen entsprach. Die In structionen besagten, die Commission solle das Material zusammenbringen und prüfen, ohne daß dabei gesagt worden wäre, im Sinn welcher Principien geprüft werden sollte; - sie sollte die verschiedenen, seit der Zeit 1 sie Katherinas entworfenen Projecte, wie zu verfahren sein möchte, prüfen. vielleicht selbst ein neues Project entwerfen; — sie sollte sich mit den ausgezeichnetsten Rechtsgelehrten des Auslandes in Verbindung setzen, was anzudeuten scheint, daß man geneigt war auch wohl auf Grundlage reiner Theorie und abstract-wissenschaftlicher Anschauungen vorzugehen; - fie sollte besonders bedacht sein den Gang der Rechtspflege zu beschleunigen und endlich das Ergebniß ihrer Arbeiten so bald wie möglich dem Kaiser vorlegen.

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Bald scheint man sich gesagt zu haben, daß Sawadowsky einer solchen Aufgabe durchaus nicht gewachsen sei und die „Gesetz-Commission“ wurde dem Justizminister Lapuchin überwiesen, der darin den Vorsiz führen sollte. Aber Lapuchin war auch kein Rechtsgelehrter und sein Gehülfe Nowosilzow eben so wenig. Außerdem hatte der Leytere so unendlich viel zu thun und wahrzunehmen, daß er den Arbeiten dieser Commission nur einen sehr geringen Theil seiner Zeit und Aufmerksamkeit zuwenden konnte. Man fühlte die Nothwendigkeit, die Arbeit einem wissenschaftlich gebildeten Rechtsgelehrten anzuvertrauen, und da es einen solchen unter den Russen nicht gab, fand der Vorschlag des Senators und nachherigen Ministers Kofodawlew, einen Liefländer zu Hülfe zu rufen, leicht Beifall bei den Betheiligten. Kosodawlew empfahl (1804) einen Herrn von Rosenkampff, mit dem er in Leipzig zusammen studirt hatte und der seitdem als Advocat in Riga lebte.

Aber dieser auf solche Weise plötzlich zu großer Bedeutung erhobene Mann erhielt dann auch wieder eine Instruction, die theils in das Unbestimmte, theils in das Grenzenlose ging, und wieder zweifelhaft ließ, was man eigentlich wollte. Sein Auftrag war ein vollständiges Gesetzbuch zu verfassen, und reglende Vorschriften für alle Behörden. Er sollte dabei die bestehenden Gesetze zur Grundlage nehmen, aber sie ergänzen und verbessern nach allgemeinen Rechts-Principien. Eine Riesenarbeit, deren ganzen Umfang die Verfasser der Instruction wohl nicht zu übersehen wußten, und in mehr als einer Beziehung konnte niemand weniger geeignet sein eine solche Aufgabe zu lösen, als eben dieser Rosenkampff, der sich nebenher später auch noch als ein sehr zweideutiger Charakter offenbarte. Er wußte so gut wie gar kein Russisch und hatte keine Ahnung von russischem Recht. Die älteren Rechtsbücher und die siebzigtausend Ulajen waren ihm vollkommen fremd. So war er denn darauf angewiesen, Lehrling und Meister zugleich zu sein, Gesetze, deren Inhalt und Wesen ihm vollkommen unbekannt waren, systematisch zu ordnen, während er sie selber erst stückweise kennen lernte, wie es der Zufall fügte. Von einer Schaar von Ueberseßern umgeben, die er von allen Arten von Gehülfen am wenigsten entbehren konnte, brachte er es niemals auch nur dahin, daß er mit Bestimmtheit unabänderlich gewußt hätte wie er eigentlich zu Werke gehen, nach welchem Plan er arbeiten wollte. Bald wollte er der geschichtlichen Entwickelung des russischen Rechts folgen, und suchte danach herum in den Ukasen, die ihm durch die Uebersehungen seiner Leute bekannt wurden; bald wollte er „russische Pandecten“ zusammenstellen, und den Inhalt sämmtlicher siebzigtausend Ukasen, sowie der älteren Gesetzbücher, unter systematisch geordnete Titel und Paragraphen vertheilen - und als auch diese Arbeit unabsehbar und hoffnungslos schien, stürzte er sich in das vergleichende Studium des römischen und des in den auswärtigen Staaten der Gegenwart geltenden Rechts, in der Hoffnung, da

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zu finden, was er brauchte er wußte jezt vielleicht weniger als früher, wozu? Er schien nun ein aus, reiner Theorie hervorgegangenes Rechts system schaffen zu wollen, das sich scheinbar, aber freilich nur scheinbar auf die in Rußland bereits geltenden Geseze, auf den Inhalt der Ukasen stüßte. Er stellte Rechtssätze auf, und nannte am Schluß eines jeten mehrere ältere und neuere Ukase als seine Quelle. Dabei soll es aber auch ihm begegnet sein, Ukasen anzuführen, die es gar nicht giebt; jedenfalls war in vielen Fällen nachzuweisen, daß der Inhalt der angeführten Verordnungen gar nichts gemein hatte mit dem Rechtssaß, der angeblic aus ihnen hergeleitet war. Und auch diese Arbeit rückte nicht von der Stelle. Jahre vergingen und es ergab sich gar nichts aus einer so vollkommen rathlosen Thätigkeit.

Eben so ohnmächtig blieb die Thätigkeit der Universitäten. Eit übten zur Zeit kaum irgend einen Einfluß auf den Gang der allgemeinen Bildung, so gut wie gar keinen anf das Beamtenthum. Im ersten Augenblick der Begeisterung hatte man geglaubt, rasche Fortschritte da allgemeinen Bildung, wie sie in der Weise wohl kein Volk wirklich erlebt hat, durch einen Befehl erzwingen zu können. Der kaiserliche Ukas, ber im Jahr 1803 die Thätigkeit der Universitäten und das Schulwesen Rußlands regelte, verfügte zugleich, daß nach Verlauf von fünf Jahren niemand, der nicht die entsprechenden Studien durchgemacht habe, eine Anstellung erhalten solle, die juristische oder andere Fachkenntnisse vorausseßte. Ohne zu erwägen, daß es zur Zeit, als diese Befehle erlassen wurden, im eigent lichen Rußland so gut wie gar keine jungen Leute gab, die gehörig vorge bildet Universitäts-Studien nüßen konnten, erwarteten die damaligen Be rather des Kaisers den vollständigsten Erfolg.

Nun aber waren die fünf Jahre verflossen und man fand sich auf dem alten Fleck. Die Hörsäle der Universitäten waren äußerst spärlid besucht worden. Der reiche und vornehme Adel hatte fortgefahren seine Söhne durch Hauslehrer, meist Franzosen, wenn nicht etwa im Pagen: Corps erziehen zu lassen; was dem kleinen, armen Adel oder der überaus zahlreichen besiglosen Beamtenwelt angehörte, hatte seine Söhne in den Cadetten-Corps unterzubringen gesucht, oder fast noch als Knaben, wenn sie eben nur lesen und schreiben konnten, als Schreiber in die Kanzleien gesteckt, wo sie sich dann empor arbeiten mußten.

Junge Leute, die Universitäts-Studien gemacht hatten, meldeten sich nur in überaus geringer Anzahl zum Dienst. Wollte man überhaupt Beamte haben - und man bedurfte deren eine sehr große Zahl, — so mußte man nach wie vor Leute nehmen, die, fast noch als Kinder in die Kanzleien gesteckt, eigentlich nichts gelernt hatten als lesen und schreiben; die sich dann in den Kanzleien die alten Fertigkeiten aneigneten und den alten Einfluß in alter Weise übten.

Die jungen Leute aus reichen Häusern begannen entweder ihre Lauf

bahn als Garde-Offiziere, und erhielten dann später, wenn sie in den Civil-Dienst übertraten, gleich höhere Stellungen, oder wenn sie gleich von Anfang an den Civil-Dienst wählten, erhielten sie den Rang, dessen sie in der Gesellschaft und am Hof bedurften, und der sie dann zu höheren Stellungen im Dienst führte, als Kammerjunker und Kammerherren.

Vergeblich waren auch die Bemühungen des Kaisers geblieben, das Loos der Leibeigenen zu verbessern oder vollends ihre Entlassung aus dem - drückenden Verhältniß herbeizuführen. Außer dem Grafen Sergey Rumänzow, dem Fürsten Alexey Bor. Kurakin, der einer Anzahl seiner Bauern die persönliche Freiheit und die Ländereien, die sie inne hatten, für anderthalb Millionen Rubel verkaufte, die in Fristen zu zahlen waren, und noch ein Paar Herren, die am Hof Glück machen wollten, fühlte sich niemand bewogen auf solche Auseinanderseßungen mit seinen Bauern einzugehen. Vergeblich waren selbst alle Anstrengungen geblieben auch nur dem Kauf und Verkauf der Leibeigenen zu wehren', die nach wie vor, gleich anderen Handelsartikeln, feil geboten wurden. Davon mußte sich der Kaiser überzeugen, als der Senator Runitsch nach einer RevisionsReise in das Gubernium Räsan berichtete, daß dort Leibeigene in Ketten und Banden auf den Jahrmarkt in dem Städtchen Uriupinsk gebracht, und gleich Pferden und Rindern einzeln zum Verkauf gestellt worden seien. Es wäre eine arge Täuschung gewesen, wenn der Kaiser geglaubt hätte, daß dergleichen etwa nur dort und ausnahmsweise geschah. Er zeigte sich in hohem Grade entrüstet, und um diesem schmachvollen Handel" ein Ende zu machen,,,der weder mit der Menschlichkeit noch mit den Gesezen bereinbarlich sei", wurde nun (14./26. Juli 1808) auf das strengste verboten, Leibeigene je anders zu verkaufen als mit dem Grund und Boden, zu dem sie gehörten; wie das von Speransky verfaßte kaiserliche Decret genau verfügte, durfte fortan kein Leibeigener ohne drei Dessätinen Land als Zubehör jeder einzelnen männlichen „Seele“ veräußert werden.

Vielleicht hoffte der Kaiser, daß nunmehr im eigentlichen Rußland wie in den Ostsee-Provinzen nur ganze Besizungen, Dorfschaften in ihrer Gesammtheit Gegenstand eines Kaufs und Verkaufs sein könnten. In der That aber war und blieb auch diese Verfügung vollkommen ohnmächtig und bewirkte gar nichts. Das neue Gesez war schon an sich ungemein leicht zu umgehen, da Land ohne die etwa dazu gehörigen Leute zu verkaufen nicht verboten war oder sein konnte. Wollte nun jemand seinen Kammerdiener, seinen Koch oder eine ähnliche Persönlichkeit verkaufen, so wurde fortan ein doppelter Contract aufgesett; vermöge des ersten überließ er dem Käufer den betreffenden Kammerdiener und die drei Dessätinen Land, die das Gesez forderte, - vermöge des zweiten kaufte er diese drei Dessätinen zurück, ohne den Kammerdiener, der somit Eigenthum des Käufers blieb.

Vor Allem aber hatte das Gesetz das Dasein einer Menschenklasse,

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