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steht, aber nur dann, wenn er, sei es in seiner Gesinnung oder seinem Wissen, seinen Fähigkeiten oder seiner Einsicht höher steht als wir, aber wir können niemals behaupten, daß er damit über das Menschenmögliche überhaupt hinausrage. Im Gegentheil: wir werden ihn mit um so mehr Begeisterung als einer der Unsrigen begrüßen und verehren, weil er mehr als andere dem Jdeal sittlicher Größe, das wir in uns tragen, nahekommt.

Hiemit treffen wir überhaupt die Grundfrage unsrer Zeit, von der die politischen und sozialen Kämpfe, die Streitigkeiten auf katholischer wie protestantischer Seite, ja überhaupt die geschichtliche Entwicklung der Menschheit bewegt wird. Es ist die Frage: Soll der Mensch ewig unmündig sein oder soll er einmal das Alter der Mündigkeit, der vollen und ganzen Selbständigkeit erreichen? Er wird ein Unmündiger, ein Sklave bleiben, wenn er überhaupt nicht fähig ist, die Wahrheit selbst zu erkennen, wenn er in religiösen und sittlichen Dingen nicht im Stande ist, mit Gott selbst zu verkehren und das Gesetz des Lebens zu entdecken und zu befolgen. Wir haben gesehen, daß diese Frage durch das innerste Bewußtsein eines jeden von uns vollständig entschieden ist, daß wir uns nicht verpflichtet fühlen noch überhaupt im Stande sind, auf unser eigenes Urtheil und unsere Verantwortlichkeit zu verzichten zu Gunsten irgend einer behaupteten Unfehlbarkeit. Gott hat uns zur Freiheit berufen und dazu geschaffen mündig zu werden; wir haben nicht das Recht, im Zustand der Sklaverei zu verharren.

Es ist äußerst interessant, in der Geschichte den stufenmäßigen Fortschritt zu beobachten, durch welchen sich die Menschheit nach und nach losgemacht hat von den ursprünglichen Fesseln der Race, der Kaste, der verschiedenen Priesterherrschaften, der sozialen Knechtschaft. In der Zeit, wo das Christenthum in die Welt eintrat, sehen wir den religiösen Menschen vermöge seines weiterblickenden Geistes sich losmachen von der Vorstellung eines von Gott bevorzugten Volkes und von dem Joch einer auf ein einziges Volk beschränkten Gottesherrschaft; sechszehn Jahrhunderte später, in Folge einer langsamen aber stets fortschrittlichen Entwicklung und unter der Einwirkung verschiedener Ursachen befreit sich das religiöse wahrheitsliebende Gewissen von den Banden der Kirche; es behauptet gegenüber der Gesammtheit sein persönliches Recht, seine Gewissensfreiheit; das ist die Bewegung des Protestantismus. Von da an ist der moderne Geist in der Religion sowohl wie in der Wissenschaft denselben Weg gegangen und hat dasselbe Ziel verfolgt: die volle Freiheit des Individuums, seine persönliche Selbständigkeit in der Welt des Geistes. Wir sind also auf keinem andern Weg als auf dem des Protestantismus, des Christenthums, des Menschenthums, wenn wir jede Vermittlung zwischen Gott und dem Menschen von uns weisen, heiße dieselbe Volk oder Kirche, unfehlbares Buch, unfehlbare Offenbarung oder unfehlbarer Prophet.

Es ist freilich wahr, daß die Reformation des 16. Jahrhunderts, nachdem sie in Sachen der religiösen Ueberzeugung und des sittlichen Lebens die unbedingte Freiheit des Einzelnen verkündigt hatte, diesem kühnen Grundsay glaubte ein Gegengewicht entgegensetzen zu müssen. Und sie meinte es gefunden zu haben in der unfehlbaren Bibel, in welcher nach

ihrer Meinung die göttliche Offenbarung in unwidersprechlichem Ausdruck enthalten sei. Allein wir müssen sagen, ohne auf's Neue auf die früher schon genannten Einwendungen gegen diese Anschauungen zurückzukommen, daß die Reformatoren sich in diesem wichtigen Punkt vollständig getäuscht haben. Ihr Prinzip war eben größer als ihre Ansichten, größer als sie selbst. Es mußte sie nothwendig vom ersten Schritt weiter führen zum zweiten, zum dritten und so weiter, bis dahin, wo wir jetzt stehen. Waren einmal die neuen Ideen eines Luther, eines Zwingli und Calvin ausgesprochen, so gab es keinen Halt mehr, die Weiterentwicklung des religiösen Gedankens vollzog sich unausweichlich durch eine Reihe von Konsequenzen, von welchen keine die leßte war. Die Autorität der unfehlbaren Bibel mußte zurückweichen vor den unanfechtbaren Ergebnissen der Wissenschaft und noch mehr vor den Thatsachen einer gereistern und geläutertern Erfahrung, ganz so wie früher aus gleichen Gründen die Autorität der Kirche und des mosaischen Gesetzes hatte weichen müssen. Der religiöse Mensch, seiner selbst und der in ihm wohnenden Ziele bewußt, entwuchs der Kindheit und im Wachsen sprengte er die Kleider, die für seine Kinderzeit gepaßt hatten, aber jezt zu eng geworden waren; eines Tages fühlte er sich stark genug, um Gott zu erkennen und ihm zu dienen ohne die Vormundschaft einer jüdischen Priesterschaft; zu einer spätern Zeit schüttelte er die Bevormundung der Kirche ab; noch später warf er als überflüssige Krücken auch die Unfehlbarkeit eines Buches, einer überlieferten Lehre, eines Wundermenschen weg. So gelangte der Mensch nach und nach von einer Freiheit zur andern; zuerst war seine Autorität Abraham, dann die Kirche, dann die Bibel, und endlich steht er da als der freie Mensch, als der Sohn Gottes.

Ein Sozialist und ein Christ.

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Als im Jahr 1843 Christmas Carol" vom Schriftsteller Charles Dickens erschien, schrieb ihm ein hervorragender Mann: Gesegnet sei Ihr gütiges Herz! Sie sollten glücklich sein; denn sie dürfen sich versichert halten, daß Sie durch dies kleine Werk mehr Gutes gethan, mehr menschenfreundliche Gefühle genährt und mehr wirkliche Handlungen der Wohlthätigkeit befördert haben, als alle Kanzeln und Beichtstühle der Christenheit zujammengenommen seit Weihnachten 1842." Auch die Königin von England wußte Dickens zu schätzen, wie folgender Vorfall beweist: sie hatte mehrmals den Wunsch zu erkennen gegeben, Dickens zu sprechen, jedoch erst im Jahr 1870, wenige Monate vor seinem Tode, kam es zu einer Zusammenkunft im Buckingham Palast. Im Laufe der Unterredung bat ihn die Königin, ihr seine Schriften zu geben, und fragte, ob sie dieselben schon am Nachmittage dieses Tages erhalten könne. Dickens ersuchte um einen kurzen Aufschub, da er ein gebundenes Exemplar zu senden wünsche. Darauf nahm die Königin das von ihr verfaßte Buch über die Hochlande mit einer eigenhändigen Widmung „an Charles Dickens" und überreichte es ihm, indem sie sagte, daß die unbedeutendste, geringste der Autoren sich

schämen müßte, es einem der größten anzubieten, wenn man ihr nicht gesagt hätte, daß es am höchsten geschäzt werden würde, wenn sie selbst es darreiche. Es lohnt sich wohl der Mühe zu forschen, woher diese ungeheure Macht gekommen, welche Dickens über die verschiedensten Geister ausgeübt und der „Evang. Gemeindebote“ sagt darüber folgendes: „Er war ein Mann von eminenter geistiger Begabung; mit dem klarsten Blick für das Leben und die Volksseele verband er ein Herz voll unbeschreiblicher Güte. Sein größtes Glück bestand in der Linderung von Noth und Elend. Jede Maßregel zum besten der arbeitenden Klassen, jeder Ruf zur Hülfeleistung für Kranke und Mittellose wurde von ihm mit dem Aufwand seiner besten Kräfte gefördert, indem er sein beredtes Wort in allen den Versammlungen hören ließ, welche solche Ziele erstrebten. So war in London ein Hospital für franke Kinder eingerichtet worden, allein Mangel an Kapitalien bedrohte die Fortdauer des segensreichen Unternehmens. Ein öffentliches Diner ward als Mittel zur Erlangung neuer Beiträge ins Auge gefaßt, und die Wahl des Vorsitzenden fiel auf Dickens, der sich mit ganzem Herzen dieser DienstLeistung unterzog. Aus der Rede, welche er an die Anwesenden hielt, mögen hier einige Stellen folgen. Er schildert zuerst einen Gang durch die ärm= sten Viertel von Edinburgh, den er in Begleitung eines Menschenfreundes gemacht, und fuhr dann fort: „Unser Weg führte uns von einer der elendesten Wohnungen zur andern; scheußliche Gerüche waren umher verbreitet; vom Himmel und von der Luft ausgeschlossen, schienen es bloße Gruben und Höhlen. In einem Zimmer eines dieser Orte, wo ein leerer Breitopf auf dem kalten Herde stand und eine zerlumpte Frau und einige zerlumpte Kinder auf dem nackten Fußboden daneben kauerten und ich erinnere mich in diesem Augenblicke, wie selbst das Licht von einer feuchtfleckigen Mauer draußen zurückgeworfen, zitternd hereinkam, als hätte das Fieber, das alles Andere schüttelte, es selbst geschüttelt - lag in einem alten Eierkasten, den die Mutter von einem Krämer erbettelt hatte, ein kleines, schwaches, abgezehrtes, krankes Kind. Mit seinem kleinen, abgezehrten Gesicht und seinen kleinen, heißen, abgemagerten, über die Brust gefalteten Händen, und seinen kleinen, hellen, aufmerksamen Augen kann ich es noch jezt sehen, wie ich es mehrere Jahre gesehen habe, uns fest anblickend. Da lag es in seinem kleinen zerbrechlichen Kasten, der gar kein übles Sinnbild des kleinen Körpers war, von dem es langsam Abschied nahm - da lag es, ganz ruhig und geduldig, ohne ein Wort zu sprechen. „Es schreie selten", sagte die Mutter; „es klage selten, es liege da und es scheine sich zu wundern, was dies Alles bedeute." Gott weiß, dachte ich, als ich dastand und es ansah, es hat wohl Ursache sich zu wundern! ... Manches arme, kranke und vernachläßigte Kind habe ich seit jener Zeit in London gesehen, manches habe ich auch liebevoll gepflegt gesehen in ungesunden Häusern und unter ärmlichen Verhältnissen, wo Genesung unmöglich war; aber immer sah ich dann meinen armen kleinen dahinwelkenden Freund in seinem Eierkasten, und immer hat mir sein stummes Staunen kundgethan, was es Alles bedeute, und warum im Namen eines gnädigen Gottes solche Dinge geschehen!... Aber, meine Damen und Herren, solche Dinge brauchen nicht zu geschehen und werden nicht geschehen, wenn diese Gesellschaft,

die ein Tropfen des Lebensblutes des großen mitleidigen öffentlichen Herzens ist, nur die Mittel zur Rettung und Verhütung annehmen will, die ich ihr zu bieten habe."

Dickens war Socialist im edelsten Sinne des Wortes; ihm schwebte als Ideal eine Zeit vor, wo ein engeres Band, als das gegenwärtig bestehende, die verschiedenen Klassen des Volkes verbinden, ein Band die höchsten wie die niedrigsten umfassen werde. Und doch wären diese Gaben und Tugenden nicht hinreichend gewesen, ihn zu dem zu machen, was er den Menschen geworden, wenn nicht ein Quell innerer Befriedigung ihm aus dem Himmelslicht des Glaubens geflossen und sich seinen Lesern mitgetheilt hätte. Jeder echte Künstler bedarf des festen Glaubens an etwas Ueberirdisches, etwas höheres als das, was ihn umgibt; jeder echte Künstler ist ein Priester, ein Seher. „Die Religion hört nicht auf, den Menschen daran zu erinnern, daß er nicht bloß für Werkstätten, Fabriken, Eisenbahnen, Dampfschiffe, Goldgräberei, Börsenspekulationen, Krieg und Sinnengenuß gemacht ist, sondern daß er einer unendlichen Geisterwelt angehört, die ihre erhabenen Kreise durch den gesammten Kosmos hindurchschlingt und dem kurzen Verlauf eines jeden Menschenlebens die Weihe einer unendlichen Bedeutung ertheilt."

Doch wer bürgt uns dafür, daß Dickens ein gläubiger, frommer Mann gewesen sei? Gleich allen wahrhaft Frommen hat er sich niemals auf den Markt gestellt, um über das zarteste und heiligste, das die menschliche Seele erfüllen kann: seine religiösen Gefühle, zu sprechen. Es sind uns jedoch mehrere unanfechtbare Dokumente aufbewahrt, in welchen er Zeugniß für sein Glauben und Hoffen abgelegt hat. Als Dickens jüngster Sohn im Jahre 1868 England verließ, um seinem Bruder nach Australien zu folgen, finden sich in dem Abschiedsbriefe des Vaters folgende Worte: „Versuche gegen andere zu handeln, wie Du selbst von ihnen behandelt sein möchtest, und laß Dich nicht entmuthigen, wenn sie zuweilen darin fehltreten. Es ist besser für dich, daß sie gegen das größte Gebot unsers Erlösers fehlen, als wenn Du selbst dagegen fehltest. Ich lege ein Neues Testament unter Deine Bücher, aus denselben Gründen und mit denselben Hoffnungen, die mich veranlaßten, eine leicht verständliche Darstellung seiner Lehren für Dich zu schreiben, als Du ein kleines Kind warst. Weil es das beste Buch ist, welches die Welt je gekannt hat, und weil es Dir die besten Vorschriften gibt, durch welche ein menschliches Wesen, das wahr und pflichtgetreu zu sein versucht, geleitet werden kann. Als Deine Brüder einer nach dem andern fortgingen, habe ich für jeden von ihnen Worte geschrieben, wie ich sie jezt für Dich schreibe, und habe sie Alle gebeten, sich durch dieses Buch leiten zu lassen, ohne Rücksicht auf menschliche Deutungen und Erfindungen. Du wirst Dich erinnern, daß Du zu Hause nie mit religiösen Observanzen oder bloßen Formalitäten belästigt worden bist. Ich habe immer Sorge getragen, meine Kinder nicht durch solche Dinge zu ermüden, ehe sie alt genug waren, sich selbst Ansichten darüber bilden zu können. Du wirst es daher um so besser verstehen, wenn ich Dir jezt die Wahrheit und Schönheit der christlichen Religion, wie sie von Christus selbst kam, und die Unmöglichkeit, weit vom Rechten abzuweichen, wenn Du sie demüthig, aber von

Herzen achtest, feierlich einpräge. Je mehr es uns mit dem religiösen Gefühle Ernst ist, desto weniger sind wir geneigt, darüber Reden zu halten. „Gieb nie die heilsame Gewohnheit auf, Morgens und Abends im Stillen für Dich zu beten. Ich selbst habe sie niemals aufgegeben und ich kenne ihre Tröstungen." Einem Geistlichen, welcher ihm in Bezug auf den Choral in der Weihnachtserzählung: „Das Wrack der Goldenen Marin“, geschrieben hatte, erwiederte er: „Es giebt, glaube ich, nicht viele Menschen, die eine demüthigere Verehrung für das Neue Testament empfinden, oder eine tiefere Ueberzeugung von seiner Allgenügsamkeit haben, als ich. Wenn ich (wie Sie meinen) ja in Bezug hierauf irre, so ist es deßhalb, weil ich alle zudringlichen religiösen Bekenntnisse und jedes Handeltreiben mit der Religion, als eine der Hauptursachen, warum das wahre Christenthum in der Welt verzögert worden ist, mißbillige, und weil meine Lebenserfahrungen mich einen unsäglichen Widerwillen empfinden lassen vor jenen ungebührlichen Zänkereien über den Buchstaben, welche den Geist aus Hunderttausenden hinaustreiben."

Und sein Testament schließt: „Ich befehle meine Seele der Gnade Gottes, durch unsern Herrn und Heiland Jesus Christus, und ich ermahne meine lieben Kinder, demüthig zu versuchen, sich durch die Lehren des Neuen Testamentes in ihrem weitesten Sinne leiten zu lassen und keines Menschen Auslegung des Buchstabens hier und dort Glauben beizumessen."

Dieses Testament trägt das Datum des 12. Mai 1869 und am 9. Juni 1870 starb Dickens.

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Religion und Naturwissenschaft.

Glücklicher Landpfarrer! Von seiner Wohnung unter Gartenbäumen sagt K. Gerok: „Dort haust mein Pfarrer als Monarche - kein Miethsherr macht ihm Herzeleid - und übt als milder Patriarche die altberühmte Geistlichkeit." Von seiner Gastlichkeit: „Er holt dir selbst aus fühlem Keller vom Besten, den du schmunzelnd lobst, die Pfarrfrau bringt auf schmuckem Teller ihr selbstgebrochenes Tafelobst.“ Von seiner Studirstube: „O Werkstatt geistlicher Gedanken, o friedlich stilles Heiligthum! Um das besonnte Fenster ranken sich Caktus und Geranium. Den Raum durchzieht ein mystisch Düften, ein unaussprechlicher Geschmack; es schwebt ein Schleier in den Lüften, halb Blumenduft, halb Rauchtabak!" Dann entwirft Gerok ein lieblich Bild von des Pfarrers Arbeit und Schmerzen auf der Kanzel, in der Schule und an Stätten des Elends; nur im Pfarrkranz, meint Gerok, werde der edle Seelenhirt gelegentlich bösartig und gefährlich: findet Gnade kein Minister, Prälat, noch Konsistorium; so lieb für sich, so schrecklich ist er in Mehrzahl, als Kollegium."

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da

Das aber hat Gerok in seinem Gedicht vergessen, daß in seiner bescheidenen Wohnung die größten Gelehrten, die Könige der Wissenschaft ein und ausgehen. Was Bedeutsames auf den Büchermarkt kommt, das hat der rechte Landpfarrer Zeit, viel Zeit, zu lesen und mangelt ihm das Geld zur eigenen Anschaffung, so bringt's die Büchertheke der Pastoral

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