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Mit dem Heiligsten Spiel treiben.

Vor dem Basler Strafgericht stand vor einigen Tagen ein 21jähriger Jüngling, der Urkundenfälschung im Betrag von 100,000 Fr. angeklagt. Das mangelnde Geld wurde auf dem Verbrecher und einem Genossen gefunden bis auf 30,000 Fr., über welche er jede Auskunft verweigerte. Niemand weiß, ob er sie irgendwo versteckt oder einem mitwissenden Menschen übergeben hat in der Hoffnung, nach überstandener Strafe doch noch in den Besiz des ungerechten Gutes zu gelangen. Aber das Peinlichste an dieser Aufsehen erregenden Leugnung ist, daß der Angeklagte und Ueberwiesene sich auf sein Gewissen beruft, welches ihm die Wahrheit zu sagen verbiete. Das muß ein sonderbares Gewissen sein; denn selbst in dem möglichen aber unwahrscheinlichen Fall, daß die fehlende Geldsumme, zu einem sogen. guten Werk der Liebe und des Mitleids verwendet worden wäre, müßte einem unverdorbenen Gewissen die Rückerstattung an das geprellte Bankhaus als erste Pflicht erscheinen. Die Vermuthung liegt viel näher, daß die Berufung auf das Gewissen nichts als ein Vorwand, ein Mittel zur Selbstverschönerung und zur Täuschung Anderer, ein Spiel mit dem Heiligsten sei.

Ein ähnliches Spiel trieb die letzten Tage ein Prediger in Berlin, Namens Hapte. Derselbe ist mit vielen Andern von Hofprediger Stöcker in die wüste Judenheze hineingezogen und aus einem Fortschrittsmann ein heftiger Konservativer geworden. In einem Prozeß zwischen dem Junker von Sonnenberg und mehreren radikalen Zeitungen wurde Hapke als Zeuge vorgeladen. Nach der gerichtlichen und allenthalben bestehenden Ordnung sollte er vor seiner Aussage den Zeugeneid leisten, daß er die Wahrheit an den Tag bringen helfen wolle, mit der üblichen Schlußformel: „So wahr mir Gott helfe!" Und siehe da, der Herr Prediger Hapke leistet das Unerhörte, indem er erklärt, er könne und werde nur dann den Eid leisten, wenn er wisse, daß der Vorsitzende, welcher ihm denselben abfordert, ein Christ sei! Natürlich beruft sich der Diener Gottes auch auf sein Gewissen, welches ihm so zu handeln gebiete. Was ist das für ein Gewissen? Bei einem völlig ungeschulten, unwissenden und geistig bornirten Menschen ließe sich an die Möglichkeit denken, daß er es wirklich für eine Sünde halte, als Christ vor einem jüdischen Juristen zu schwören. Aber bei einem protestantischen Geistlichen der deutschen Hauptstadt einen solchen Grad geistiger Verbohrtheit anzunehmen, wäre doch wohl eine Beleidigung aller derer, die den schwarzen Rock tragen. Herr Hapke weiß ohne Zweifel schon von der Schule und dem Konfirmandenunterricht her, daß man einen Eid vor Gott ablegt und daß dem aufrichtig Schwörenden es gar nichts anhaben kann, wenn auch der vorsitzende Jurist (was in und außer Berlin wohl ungezählte Mal vorkommt) kein Christ, sondern ein Atheist oder ein Jesuit ist. Die Weigerung des Berliner Predigers kann auf Alle, welche diese Sorte von Theologen ein klein wenig kennen, nur den Eindruck machen: er hat die Judenheße mitgemacht, welche unter Anderm auch die Vertreibung der Kinder Israels aus allen richterlichen Beamtungen fordert;

indem er vor dem Juden den Eid verweigert, will er den Beweis leisten, daß die Judenheze berechtigt war; er macht eine Demonstration, ein Demonstratiönchen aus fanatischer Parteisucht und hängt dieser das schöne Mäntelchen um, als handle es sich um eines Christen Gewissen

Spiel mit dem Heiligsten.

nichts als

Was lehren uns Anarchisten und Nihilisten?

Man kann jest kaum eine Zeitung zur Hand nehmen, ohne den Namen Anarchist oder Nihilist zu begegnen, wogegen der Name Sozialist und Sozialdemokrat weit seltener geworden ist. In Lyon stehen dato Anarchisten vor Gericht, des Massenmordes angeklagt, und in Rußland ist die Furcht vor den Nihilisten größer, als bei uns die Furcht vor Gott. Was ist und was wollen diese Leute mit den sonderbaren Namen ?

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Das dem Griechischen entnommene Wort Anarchie heißt ohne Herr schaft“ und Anarchisten nennen diejenigen sich selber, welche jede Regierung abschaffen wollen. Die ehedem so zahlreich in die Schweiz entronnenen Flüchtlinge, welche in Deutschland an Stelle der Monarchie die Republik aufrichten wollten, sind längst aus der Mode gekommen. Auch die Sozialdemokraten mit ihrem Bestreben, das gesammte Eigenthum in die Hand des Staates zu legen, der dann wie ein großer Fabrikherr jeden Bürger als einen Arbeiter behandeln und seinen Leistungen gemäßz bezahlen sollte, sie sind längst überholt und unter das alte Eisen geworfen. Die Anarchisten sind viel weiter im „Fortschritt“, indem sie sagen: Weder Kaiser noch König, weder Parlament noch Gemeinderath, keine Obrigkeit, feine Regierung, fein Rathhaus und Gerichtssaal, Jeder sein eigener Herr, was so viel heißt, als: Jeder der Knecht seines Unfinns im eigenen Kopf und seiner Schlechtigkeit im eigenen Herzen.

In Rußland werden diese Leute Nihilisten genannt, von dem lateinischen Wort nihil, welches „nichts" bedeutet. Es gibt ein Büchlein von Nicolai Karlowitsch, der darin die Entwicklung des Nihilismus“ in seinem Vaterlande beschreibt. Obschon er haßt, was er beschreibt, und aus diesem Hasse kein Hehl macht, hält er sich so streng an Thatsachen aus dem russischen Leben, daß er uns den Eindruck eines fast zuverlässigen Erklärers macht. Nachdem wir sein Büchlein gelesen, haben wir die Ueberzeugung, der russische Nihilismus sei etwas viel Anderes, als was man bei uns gewöhnlich darunter versteht. Er ist weniger ein Verein oder eine Partei, als vielmehr eine gewisse Geistesrichtung und Gesinnung. Vor Allem bedeutet er nicht etwa eine Opposition der Armen gegen die Reichen und noch viel weniger eine Feindschaft der Ungeschulten gegen die Gebildeten, denn unter Handarbeitern und Bauern zählt er sehr wenig Anhänger; seine Freunde sind fast ausschließlich in den höhern und höchsten Gesellschaftskreisen, Beamte und Professoren, seine Salonleute und Gelehrte, vor Allem Studenten und Studentinnen. Was diese zu Nihilisten macht, ist bald eine ernsthafte Bildung und Freiheitsliebe, bald eine maßlose Sucht, über Alles

zu raisonniren, geistreich und hochentwickelt zu scheinen, bald der unbändige Trieb nach Genuß jeder Art und in jedem beliebigen Maß. Was für eine Staatsform ist anzustreben? gar keine! Was für Geseze sollen den Verkehr zwischen Mann und Weib regeln? gar keine! Welche Ordnung des Mein und Dein ist vernünftig? gar keine! Was ist Sünde? gar nichts! Was ist heilig? gar nichts! Mit dem Bestehenden zufrieden sein, ist die einzige Sünde und an allem Bestehenden rütteln, ist die einzige Tugend. Was denkt ihr aber, was dieser Geist aus der menschlichen Gesellschaft machen müßte? Darüber denken wir gar nichts! So ungefähr schildert Karlowitsch die russischen Nihilisten. Sie verachten, was in der übrigen Welt für schön gehalten wird, und verehren, was sonst ein anständiger Mensch zu verabscheuen pflegt. Sie loben jedes Verbrechen, das gegen eine bestehende Sitte verstößt und wo die Häßlichkeit gewöhnliche Augen beleidigt, finden sie noch einen im Grunde schönen Zug". Und dabei sind sie nicht etwa verachtet, sondern eher in der Mode und es gehört zum guten Ton, sie, wenn auch nicht zu bewundern, so doch als eine höchst interessante Erscheinung gelten zu lassen.

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Das sind sie denn auch in unsern Augen, Anarchisten sowohl wie Nihilisten. Sie geben uns die große Lehre wieder, daß ein Extrem dem Andern ruft. Eine solche Geistesrichtung kann zu einer so hohen Entwicklung nur in einem Volke kommen, das aus religiösem und politischem Despotismus herauszuwachsen beginnt. Genauer ausgedrückt: solche Erscheinungen reifen nur auf katholischem Boden. Wo eine Kirche Jahrhunderte lang einem Volfe ihren Aberglauben mit Zwangsmitteln eingeimpft hat, wird der Unglaube geboren, der alle Ketten miteinander und gewaltsam brechen will. Ist dem Volk im Namen Gottes gesagt worden, aller Unsinn sei wahr, so fängt sein unselig-seliges Erwachen damit an, daß es meint, alles Wahre sei eine Lüge. Es ist das Erwachen eines Berauschten, nachwirkender Rausch, selbst noch ein Rausch, aber so wahr die Geseze Gottes gelten, ist's doch ein Erwachen, doch der Uebergang zu etwas, das besser ist, als was vorher war.

Die Macht des Glaubens.

Um etwas auszurichten in der Welt muß der Mensch an etwas glauben. Alle großen Männer und Frauen, die eine nachhaltige Wirkung auf Mit- und Nachwelt ausübten, sind im Grunde Gläubige gewesen, womit freilich nicht ausgeschlossen ist, daß sie mit ihrem Glauben in allerlei Irrthum befangen waren. Wer selbst an einen ganz unbedeutenden Posten gestellt ist und in stiller Verborgenheit ein von der Welt unbemerktes Werk thut, kann dabei nur in dem Maß Gedeihen und Befriedigung haben, daß er an seine Sache glaubt, sie für etwas Rechtes und Nothwendiges hält. In diesem großen, umfassenden Sinn ist Léon Gambetta, dem das französische Volk eine Todtenehre erwies, wie sie kaum je ein Gekrönter der Erde erfahren hat, ein Mann voll Glaubens gewesen. Was ihn, den Sohn eines Spezereiwaarenhändlers, den spätern Pariser Advokaten zum

bedeutenden Redner, zum Führer der republikanischen Partei und schließlich zum populärsten Helden der französischen Nation gemacht hat, das war nicht sowohl sein Talent (darin hatte er Viele seinesgleichen), als vielmehr ein großer, ihn ganz beherrschender, zu gewaltigen Thaten hinreißender Glaube. Der Glaube an den Segen republikanischer Einrichtungen hat ihn zum Kämpfer gegen das äußerlich so glanzvolle und innerlich so morsche dritte Kaiserreich des Staatsstreichmannes Louis Napoleon; der Glaube an den Menschen als ein freies und vernünftiges Wesen hat ihn zum glühenden Feind des korrumpirenden Jesuitismus in der römischen Kirche; der Glaube an das gute Recht und die unverwüstliche Größe seines französischen Volkes hat ihn zur Seele der nationalen Erhebung im furchtbaren deutsch-französischen Kriege gemacht. Daß er in jener schweren Stunde, da Alle um ihn her verzagen wollten und sprachen: es ist aus mit uns! den Muth behielt und großen persönlichen Muth bewies, das war der unwiderlegbare Beweis einer gläubigen Seele, die vom momentanen Mißerfolg sich nicht verderben läßt, und dessenthalb schauten wir immer mit inniger Theilnahme und Freude auf ihn, auch dann noch, als die wankelmüthige Masse, oder wenigstens die in der Presse vertretene sog. öffentliche Meinung, jählings von ihm abfiel und zum Theil in der schnödesten Art sich gegen ihn kehrte. O, die Menschen sind so selten, die etwas Rechtes recht glauben! die Männer sind so selten, die für ihren Glauben ganz eintreten und sich von ihm beherrschen, zur Arbeit, zum Kampf auf Leben und Tod sich hinreißen lassen! Wir mußten uns an der Laufbahn dieses Mannes voll Glaubens und Begeisterung freuen. Aber gerade weil wir ihn so hoch hielten, bebte uns das Herz bei der Nachricht, daß der Pistolenschuß, welcher den Starken inmitten seiner Laufbahn plötzlich in den Staub legte, eine so unselige Veranlassung haben mußte, daß das Weib, welches ihn liebte, nach den Gesezen der römischen Kirche, die das Unglück Frankreichs und die größte Gefahr der Republik sind, nicht vor vielen Jahren schon seine Gattin werden konnte. Wir halten es mit dem, was ein Eingeweihter beim Tode Léon Gambetta's geschrieben: „Die Frau geht wie ein rother Faden auch durch Gambetta's Leben; der Faden knüpft sich an seiner Bahre fest. Wohlverstanden: la femme, nicht l'épouse! Wilde, ungeregelte Verhältnisse umgarnen den Mann des Staates, der Oeffentlichkeit, schürzen ihm Neze, die schwer oder gar nicht zu durchreißen sind, und die höchste Thatkraft verwickelt sich tödtlich im Rocken der Omphale."

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Sechster Jahrgang.

No

No 4. Samstag, 27. Januar 1883.

Schweizerisches Proteftantenblatt

Herausgeber:

Pfr. A. Altherr und E. Linder in Basel, Pfr. Bion in Zürich.

Wir sollen nur nicht in Sinn nehmen, daß der heilige Geist gebunden
sei an Jerusalem, Rom, Wittenberg oder Basel, an deine oder eine andere
Person. In Christo allein ist die Fülle der Gnade und Wahrheit.
Decolampad an Luther.

Erscheint jeden Samstag. Man abonnirt auf jedem Postamt der Schweiz und des Auslandes. Preis halbjährlich franko zugesandt 2 Fr. Wer das Blatt in Basel gratis erhalten will, kann dasselbe in der Buchdruckerei J. Frehner, Steinenvorst. 12, abholen.

Die Bürgschaft,

ein Kapitel aus der sozialen Noth.

Motto: Jch lasse den Freund dir als Bürgen,
Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen.

Die Definition der Bürgschaft, welche in diesem bekannten Dichterworte angedeutet ist, hat in unsern volkswirthschaftlichen Zuständen nachgerade eine erschreckende Illustration gefunden, an welche Schiller vor bald 100 Jahren gewiß nicht von ferne dachte, als er die Wahrheit veranschaulichen wollte, daß die Treue kein leerer Wahn sei. Denn wer vermöchte die Tausende zu zählen, welche durch „Bürgschaft“ „erwürgt“ und in Kummer und Elend gebracht wurden! Wo seit den lezten Jahrzehnten irgend ein Glied der bürgerlichen Gesellschaft dem finanziellen Nuin anheimfällt, da ist es selten oder nie der Einzelne nur, welcher Schiffbruch leidet, sondern sein Fall zieht eine kleinere oder größere Zahl von Freunden und Verwandten oder Fernestehenden bis zum Verlust der eigenen bürgerlichen Ehrenfähigkeit in Mitleidenschaft. Und leider sind unsere Gesetze noch nicht so gerecht und human geworden, daß sie zwischen verschuldetem und unverschuldetem Konkurs unterscheiden. Der Geldstager wird politisch und sozial stumm gemacht; die Rechte gehen, die Pflichten bleiben.

Nun weiß Jeder, der nur halbwegs menschenfreundlich angelegt ist, daß es Fälle geben kam, wo er dem Nächsten, dem Blutsverwandten, dem Freunde beizustehen sich für verpflichtet halten muß, wo er nicht mit der bequemen, oft so hartherzigen Entschuldigung sich herauswinden kann, daß er prinzipiell" und nach „schriftlichem oder mündlichem Versprechen" feine Bürgschaft leiste. Ohne materielle Hülfe, und die gewähren wir in den meisten Fällen durch die Bürgschaft, könnte der Aufänger seinen Beruf nicht

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