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Sechster Jahrgang.

No 44.

Samstag, 3. Nov. 1883.

Schweizerisches Proteffantenblatt

Herausgeber:

Pfr. A. Altherr und E. Linder in Basel, Pfr. Bion in Zürich.

Wir sollen nur nicht in Sinn nehmen, daß ber heilige Geist gebunden
sei an Jerusalem, Rom, Wittenberg oder Basel, an deine oder eine andere
Person. In Christo allein ist die Fülle der Gnade und Wahrheit.
Decolampad an Futher.

Erscheint jeden Samstag. Man abonnirt auf jedem Poftamt der Schweiz und des Auslandes. Preis halbjährlich franko zugesandt 2 Fr. Wer das Blatt in Basel gratis erhalten will, kann dasselbe in der Buchdruckerei J. Frehner, Steinenvorst. 19, abholen.

Die Wittenberger Nachtigall. *)

Nun, Wittenberger Nachtigall,
Laß klingen deinen füßen Schall,
Laß schmettern deinen hellen Schlag,
Ob ihn dein Volk noch hören mag.
Vor Zeiten, da dein Lied erscholl,
Wie ward die Welt so freudevoll,
Der Winter floh, ein Frühling kam,
Ein Gnadensommer wonnejam.
Der Odem, der dein Herz geschwellt,
War Gottes Geist vom Himmelszelt,
Der füllte dich mit heil'ger Brunst,
Der lehrte dich die holde Kunst.
Dein Labequell, dein Liederhort,
Das war das lautre Gotteswort,
Draus hast du deinen Geist gelegt,
Die Kehle dir zum Sang geneßt.

Die Rose, die dein Lied besang,
In Gottes Paradies entsprang,
Auf Bethlems Flur aus Dornen sproß,
Den Purpurkelch am Kreuz erschloß.
Deß machtest du die Herzen froh,
Der Wahn entwich, die Nacht entfloh,
Der Welt ging auf ein neuer Schein:
Aus Gnaden sollt ihr selig sein!

Du bringst den Kindlein gute Mähr:
„Vom Himmel hoch da komm' ich her!"
Du machst getrost der Greise Sinn:
„Mit Fried' und Freud' ich fahr' dahin!“
Da sich dein Psalm gen Himmel hob,
Ward König David froh darob,
Die Engel Gottes stimmten ein:
„Nun freut euch liebe Christeng’mein!“

Den Feind verdroß dein Saitenspiel,
Daß er darein mit Donnern fiel,
Doch jubelnd Flang's, dem Sturm zum Spott:
Ein' feste Burg ist unser Gott!"
Des Knaben Sang zu Eisenach
Der edlen Frau zum Herzen sprach,
Des Mannes Lied erscholl bis Rom,
Drob zitterte St. Peters Dom.
Am frohen Tag, im Freundekreis,
Zur Laute sangst du Gottes Preis,
Am Tag des Streits, im hellen Zorn,
Sprang himmelan dein Liederborn.
Nun, Wittenberger Nachtigall,
Laß flingen deinen füßen Schall,
Laß schmettern deinen hellen Schlag,
Ob ihn dein Volk noch hören mag.
Carl Gerof.

Die neue Thurmuhr.

Albert Bizius, gewesene Pfarrer in Twann und nachmaliger Regierungsrath, leider seit mehr als einem Jahre todt, war ein Prophet, urkräftig und tief in seiner religiösen Empfindung, ein rechtes Kind Gottes,

*) Aus der von Carl Gerok unter diesem Titel herausgegeben Sammlung der geistlichen Lieder Luthers. Stuttgart. Carl Krabbe. 1883.

tapfer und zart in seinem sittlichen Leben, voll gottvollen Troßes gegen den Schlendrian und von heiliger Unerschrockenheit im Bahnen neuer Wege der Wohlfahrt für alles Volk. Aus 1200 seiner hinterlassenen sauber ausgearbeiteten Predigten haben seine Freunde soeben ein Bändchen herausgegeben.*) Wir laden alle Verständigen aller kirchlichen Parteien ein, dasselbe zu lesen und dann zu sagen, ob sie je in schlichterer und einfältigerer, selbst dem Kinde verständlicher Form mehr zarten, tiefen, religiösen Geist gefunden haben! Bei Anlaß der Aufrichtung einer neuen Thurmuhr sagte Bizius seiner kleinen Dorfgemeinde Folgendes:

1. Die Zeitmessung war nicht von allem Anfang her da, sondern hat eine lange und mühselige Geschichte hinter sich; auf unzähligen Stufen klomm sie zu ihrer jetzigen Höhe empor und ist noch lange nicht oben angelangt. Lange, lange gab es überhaupt noch gar keine Messung der Zeit; während dessen lag Nacht über dem Menschengeschlecht, und es wird kaum je herausgebracht werden, wie lange selbe dauerte; die Einen reden von zweitausend, Andere von hunderttausend und mehr Jahren. In einer ähnlichen Zeitlosigkeit lebt noch heute dieser oder jener Mensch, so mancher weiß nie, welche Stunde es ist, welcher Tag in der Woche; er vermag den laufenden Monat oder Jahrgang nie sofort zu nennen, sondern muß sich immer erst besinnen und trifft's auch so nicht jedes Mal. Er weiß nicht, wann er geboren ist, wann er geheirathet hat, und noch viel weniger, wann seine Kinder auf die Welt gekommen sind oder wie seine Schwiegermutter hieß. Meine Zuhörer! Ein solches zeitloses Dasein ist stets ein halbes Traumleben; viel fruchtloser und vergeblicher enteilen die Stunden, welche nicht gemessen, die Tage, welche nicht gezählt werden. Die Zeit rinnt wie Sand durch die Finger.

Es suchte daher das Menschengeschlecht der Zeit dadurch Herr zu werden, daß es sie maß und eintheilte. Der erste Zeitabschnitt war wohl der Monat, von einem Neumond zum andern; dann entstand das Jahr, so und so viel Neumonde, die Tage immer kürzer, die Nächte länger; da auf einmal geht's umgekehrt, kürzer wird die Nacht, länger der Tag, ein Jahr ist vorbei, von einer Wintersonnenwende bis zur andern hat's gedauert. Aus dem Großen ging man in's Kleinere: man zählte die Tage oder besser die Nächte, denn diese machten mehr Eindruck. So und so viele Nächte sind seit jenem großen Opfer verflossen, pflegte man zu sagen, ganz ähnlich, wie man hier und dort im Volke noch heute redet. Dann theilte man die düstere Nacht, um sie zu kürzen, in drei Nachtwachen ein. Dann erst kam der Tag an die Reihe und entstand als sein Messer die Stunde. Sie ward gemessen durch das Sonnenzeit oder die Sanduhr und ausgerufen durch Sklaven, welche gleichzeitig an metallene Platten ober Becken schlugen. Endlich trat auch unsere Uhr in's Dasein und verfeinerte sich vom ungestalten Nürnberger-Ei bis zum feinsten Chronometer von Genf. Jhr seht, welche reiche Entwicklung. Zugleich damit trat die Menschheit in den hellen Tag der Geschichte. Sie hat zwar zuvor schon gelebt und gewirkt und gewiß nicht umsonst, aber erst jezt kommt uns genauere Kunde von ihrer *) Predigten von Albert Bißius. Mit dem Porträt des Verfassers. In jeder guten Buchhandlung zu beziehen.

Arbeit und dient uns zur Belehrung. Jene Vergangenheit wird fruchtbar für die Gegenwart. Gleich also auch der einzelne Mensch: er muß lernen sein Leben abtheilen, dann wird er um so viel reicher an Erfahrung, muß lernen seine Stunden eintheilen, dann geben sie um so besser aus. Wir lachen über das Kind, das mit seiner soeben erhaltenen Sackuhr nicht dumm genug thun kann, sie alle zwei Minuten hervorzieht und beguckt; allein wenn es dabei vom hohen Werth der Zeit nur eine Ahnung bekommt, so ist jenes kindische Spiel weniger unnüß, als es scheint.

Es gibt aber noch eine höhere Stufe; über dem Eintheilen der Zeit steht immer das Eindringen der Zeit in Alles, das Saugen von Weisheit aus der Vergangenheit, die kecke Benutzung des gegenwärtigen Augenblickes, die kluge Berechnung der Zukunft. In dieser Beziehung sind wir Schweizer im Allgemeinen noch weit zurück. Die großen Gedenktage unserer vaterländischen Geschichte werfen nicht genugsam hellen Schein in das Leben des Einzelnen hinein; die Rücksicht auf die eigene Zukunft, Berufung und Bestimmung wirkt zu wenig mächtig; Geld gilt noch immer höher als Zeit, während es doch gerade umgekehrt sein sollte nach jenem schönen Sprüch wort, daß die Zeit das wahre Geld, der Nerv der Dinge und der eignen Arbeit sei.

Meine lieben Zuhörer! Darum wäre es ein Glück, wenn der Stundenschlag unseres neuen Zeitmessers hier am Thurm euch recht oft an den hohen Werth der unwiderbringlichen Zeit erinnern und mahnen würde, doch eure Tage und Stunden wohl abzutheilen uud einzutheilen und damit gut Haus zu halten; wenn er euch oft in stillen Stunden zum Nachdenken darüber brächte, wie viel man doch mit der Zeit, die so unaufhaltsam über uns hinwegzieht, machen könnte und wie viel besser sie nußen, als wir thun.

II. Meine Lieben! Der Glockenschlag hat euch aber noch weit mehr zu sagen. In gar verschiedener Stimmung bei Tag und bei Nacht werdet ihr ihn vernehmen, und indem ihr eures Herzens Gedanken in denselben hineinlegt, wird er euch bald dieses bald jenes zu sagen scheinen. Er ruft euch rasch und unerbittlich des Morgens zur Arbeit auf, kündet euch gar lieblich die ersehnte Unterbrechung in derselben an; dann ist's, als flögen die Viertelstunden immer schneller dahin, endlich ist der Feierabend da. Ganz besonders rasch schlagen die Stunden die Viertelstunden hört ihr gar nicht mehr am Tag der Freude! Der Schall klingt euch nicht angenehm, wie ein Freudenstörer, ein Freudenräuber. Doch heilsam ist dieser Schall: er erinnert an die Vergänglichkeit jeder äußern Freude, er mahnt an die nahende Pflicht, er warnt, die kurze Freude nicht ausgehen zu lassen in ein langes Leid. Umgekehrt, wenn Leid dein Herz bedrückt, da schleichen die Stunden ganz unerträglich langsam dahin, es währt eine halbe Ewigkeit bis zu einem Viertel, eine ganze bis zu einem Stundenschlag; so schon bei Tage, aber erst bei Nacht in Krankheit oder auf Krankenwacht! In der Geisterstunde will dir sogar dein Herz erbeben und anfangen sich zu fürchten. Und doch klingt's aus den Schlägen der Glocke wieder her vor wie eine Stimme von oben, wie eine Predigt voll Troft. Es schlägt elf: Alles schläft, aber wie es zu schlagen beginnt, ist man nicht mehr so ganz allein, es gibt ja noch Einen über uns, einen Hüter Israels, der

nicht schläft noch schlummert. Jezt hallt die Glocke Mitternacht, das schlägt so fest und sicher in die Finsterniß hinaus, und aus Furcht und Sorge und Schmerz zieht es dein Herz überwärts zu Gott, da drunten ist nichts sicher und fest, aber er ist der Fels, da ruhest du sicher, wirfst deine Sorge ab und vergissest dein Leid. Horch, ein Schlag — schon Eins - du hast lange gebetet, es wird wohl gehen, mit dem Herrn fang Alles an. Zwei es geht dem Tag entgegen, schöpfe frischen Muth. Dreida senkt ein milder Schlaf sich auf deine brennenden Lider, löst deine Glieder, hüllt dich in süßes Vergessen ein und führt neue Kraft dir zu. Wenn du so eine Nacht durchgemacht, dann weißt du erst, wie es vom Thurme schlägt und was Alles drin liegt.

Aber noch mehr lehrt dich die Glocke: bald hörst du deutlich, wie sie sagt: zur Zeit, zur Zeit, thue Alles zur rechten Zeit, und wenn du ihr nicht gehorchst, dann hallt sie: zu spät, zu spät. Oder du hastest, du machst deine Sache nur halb und ungenau, in der Angst, du werdest sonst nicht fertig, da hallt sie dir: sei treu, sei treu! Thue recht sorgfältig, was dir obliegt, angste nicht, haste nicht, thue dein Bestes, so gibt dir Gott Zeit genug. Und wenn du älter wirst, da denkst du zurück an deine Jugend. Damals schlug dir die Glocke nie rasch genug, du vermochtest zuweilen das Ende einer Schulstunde kaum zu erleben; jest dagegen schlägt sie dir immer zu schnell, und im Flug enteilen Stunden, Tage und Jahre. Jezt kennst du die beiden großen Eigenschaften der Zeit: langsam aber unaufhaltsam; einst quälte dich ihre Langsamkeit, jetzt da du alt und zaghaft bist, ihre Unaufhaltsamkeit. Mußt dir auch sagen: das ist ja nicht blos die Zeit, die leere Zeit, sondern das ist der Wille Gottes. Einst machte er mir Alles zu langsam, ta war mein Herz in seiner Ungeduld ihm stets weit voraus und riß die Früchte unreif von den Bäumen. Jezt geht er mir zu schnell, ich mag ihm kaum mehr nach und klage über menschliche Unvernunft und Haft, wo doch ein Wille Gottes vorliegt und waltet. Einst schlug mein Herz in rascheren Schlägen als die Uhr am Thurm, jest langsamer, einst war mein Wille dem Willen Gottes voraus, jezt hinkt er ihm hinten nach. Die Uhr, der Wille Gottes gehen stets den gleichen Gang, mein Herz muß sich drein schicken lernen, muß in der Jugend seine Ungeduld zügeln, muß im Alter seine Zaghaftigkeit bemeistern und Schritt halten mit Gottes Willen.

III. Der Glocken Stimme sagt mir aber noch ein Leztes, das Wichtigste. Wenn es so schlägt und unaufhörlich schlägt und während dem die Dinge kommen und gehen und ich selber mit muß, ich mag wollen oder nicht, dann wird mir oft eng um's Herz und angst und ich frage: gibt es denn gar nichts im Himmel und auf Erden, das von der raftlofen Zeit nicht mitgerissen werden kann, sondern geborgen vor ihrer Fluth anf einem Felsen ruht, gibt es nichts Ewiges? Meine Zuhörer! So weist die Zeit über sich hinaus empor zur Ewigkeit. Nur wer den Jammer der Zeitlichkeit, ihre ruhelose Hast, ihre Veränderlichkeit und Vergänglichkeit recht tief empfunden und erfahren hat, daß die Zeit noch immer jenem alten Gotte gleicht, der seine eigenen Kinder wieder verschlingt, der sehnt sich so recht innig nach etwas Festem, nach Beständigkeit. Aus den Viertel

stunden heraus, die wir fort und fort vom Thurme schlagen hören, rufen wir nach etwas, das bleibt Tag und Nacht, im Wechsel der Jahre und Zeiten.

Gibt es so etwas? O gewiß. Schon hier auf Erden. Das ist des Menschen Treue. Wenn er bei dem stehen blieb und unentwegt, unver brüchlich ausharrte, bei dem, was er Gott gelobte, was er den Menschen versprach, wenn seine Gesinnung im Alter noch immer dieselbe ist, wie in den Tagen seiner Jugend, nur durchläutert, erprobt und bewährt, fest geworden, dann trägt er damit etwas in sich, das keine Zeit ihm gegeben hat und darum auch keine Zeit ihm wieder nehmen kann.

Doch fester noch, beständiger und zuverläßiger als jede menschliche Treue ist die treue Liebe Gottes. Sein Wille schreitet rastlos durch jedes Menschenleben, durch jede Dorfschaft, durch die Jahrhunderte, seine Liebe bleibt dieselbe, ist immer wieder zu finden, dringt aus Allem hervor. Du warst jung und wirst alt, sie hat dein Herz gewärmt damals und wärmt es noch heute, hat damals dir die Verheißungen gegeben, deren Erfüllung du heute schaust. Da wurdest du einzig nie betrogen, nie zu Schanden.

Manches sagt dir der Glocke Schlag. Dein Herz legt's hinein, dein Ohr hört's heraus. Doch Besseres sagt dir die Glocke nie, als wenn es aus den zwölf mitternächtlichen Schlägen dir entgegentönt: Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb' in Ewigkeit.

Herbstgedanken.

Wen hätten diese letzten, schönen Herbsttage mit ihrem Sonnenschein und ihrer Farbenpracht nicht noch einmal hinausgelockt vor die Thore der Stadt, auf die waldigen Höhen und durch die fröhlichen Dörfer näherer oder weiterer Umgebung? Wer hätte nicht noch einmal, im Anblick der bunten Herbstnatur einen Wiederhall der Sommerlust in seinem Herzen erwachen gefühlt, stiller und ernster zwar, im Gedanken an kommende trübe Monate, aber sanft und weich, wie das Abendroth eines schönen Tages? Die Luft so rein und blau, der Strom so ruhig, klar und tief, so bunt der Kranz der Wälder um das satte Grün der Wiesen, dazu aus der Ferne herüberklingende Herdenglocken und helles Jauchzen der Winzer und über Allem der seine Rauch des Hirtenfeuers und der bläuliche Duft des Herbstes am Horizonte fürwahr ein Bild, wohl der Betrach tung werth und recht dazu angethan, Gefühle des Dankes gegen den gütigen Schöpfer in unsern Herzen zu wecken!

Aber wenn nach diesem letzten Abschiedsfest die Erde anfängt, ihr reiches Kleid Stück um Stück abzulegen, wenn die Farben allmählig_ver= blassen, der Jubel verhallt und die rauhen Winde als Vorboten des Winters wild über die verödeten Fluren fegen, dann kehrt auch bei den meisten Menschen die Herbststimmung ihren wehmüthigen melancholischen Revers heraus. Sie sehen im Spiegel der Natur das Bild ihres eigenen Lebens. Ihr Blick folgt traurig den niederfallenden Blättern, wie sie langsam, eines nach dem andern, sich ablösen vom Zweige, und es steigt die Erinnerung auf an ein ähnliches Sinken und Welken einer Reihe schöner Hoffnungen

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