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rationalistischen Zug an sich, indem sie erkennen, daß die Bibel nicht buchstäblich geglaubt werden kann, indem sie ferner die zu Nicäa beschlossene Dreieinigkeit für einen großen Irrthum erklären und die Erlösung des Menschen nicht oberflächlich an das Blut Jesu binden, sondern als eine sittliche Aufgabe auffassen, die jeder Mensch in der Kraft Gottes zu be wältigen hat. Der größte Kirchenhistoriker der Gegenwart, Karl Hase in Jena, nennt daher ihre Lehre einen phantastischen Rationalismus.

Mit diesen paar Erklärungen wollten wir, Niemand zu lieb und Niemand zu leid, diejenigen unserer Leser im Voraus ein wenig orientiren, welche am Sonntag Abend sich vielleicht in der St. Leonhardskirche einfinden wollen. A.

Von Legaten und Geschenken.

Dr. Sonderegger sagt in seinen Vorposten zur Gesundheitspflege: „Wie oft drängen sich Familienscenen, Vermächtnisse, kirchliche Handlungen, furz Alles, was das Leben Aufregendes hat, in die letzten Stunden oder Minuten zusammen, in jene Zeit der tödtlichen Ermattung, der Verwirrung durch Krankheit, Medikamente und Menschen. Muß denn der Mensch immer mighandelt sein, auch im Todeskampfe! Auch aus Liebe! In jenen Tagen und Stunden der tiefen Abenddämmerung, welche dem Tode vorangeht, in welchen der Kranke zu Allem ja sagt, wenn man ihn nur in Ruhe läßt, werden vielerlei Testamente geschmiedet, welche bei klarem Bewußtsein und dennoch nicht bei Trost gemacht sind." Wer sich nicht von den Wegelagerern des Tedbettes will plündern lassen, muß in ge= sunden Tagen seine Sachen ordnen!

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Das Leztere hat der wackere Seifenfabrikant Heinrich Bürgin gethan, den wir jüngst zu Grabe trugen und der schon im Jahr 1873 sein Testament machte und unter Anderm auch dem Frauenverein von St. Leonhard 500 Fr. legirte, wofür wir ihm auch an dieser Stelle noch herzlichen Dank sagen. Mögen Andere es auch thun! Wir wollen einmal daran erinnern, wie außerordentlich viel Gutes dadurch geschieht, daß die Christenleute in Basel in neuer wie in alter Zeit beim Gedanken an ihr Ableben den Armen testiren, wie auch dadurch, daß Trauerhäuser beim Vertheilen von Erbschaften der Armenanstalten gedenken.

Unsere wohlthätigen Institute in Basel mit ihren zum Theil ganz stattlichen Vermögen, mit den Strömen von Segen, die sie verbreiten, verdanken ihr Dasein fast ohne Ausnahme jenen Verstorbenen, die im Gedanken an ihre Hinfälligkeit etwas Unvergängliches schaffen unb erhalten helfen wollten: Menschen, die auf Kranken- und Todbetten zu den Hülflosesten aller Geschöpfe wurden, sind dadurch, daß die Liebe Christi sie drängte, die Quellen unerschöpflicher Hülfe und Trostes für Millionen Nachlebender geworden. Auch hier gilt das Wort: wenn ich schwach bin, so bin ich starf.

Wir wollen dieß an einem Beispiel, das uns besonders nahe liegt, noch klarer machen. Eine Haupteinnahmequelle der freiwilligen Armenpflege sind die jährlichen Beiträge der Fisci oder kirchlichen Armengüter und diese haben durch tausend Adern ihre Lebenskraft von Todtenbetten und aus Trauerhäusern empfangen. Die 30 Armenpfleger der St. Leon= hardsgemeinde z. B. verabreichen Jahr für Jahr manchen hundert Armen Beiträge an Hauszins und Spitalkosten; ihre Auslagen trägt zur Hälfte der Fiskus und das Vermögen dieses Fiskus ist durch Schenkungen und Legate zu Stande gekommen von Seite Solcher, die seit Jahrzehnten und Jahrhunderten in fühler Erde ruhen.

Von den guten Gedanken, die der Gott der Barmherzigkeit in Kranken, Sterbenden und Trauernden weckte, daß sie für die Armen der Gemeinde dem Pfarrer eine Gabe zustellten, davon können jetzt und hoffentlich auch in Zukunft zahllose Sorgende und Bekümmerte etwas erquickt werden. So leben wir von den Todten und sind die Leiden der Zeit nicht werth der Herrlichkeit, die dadurch offenbar wird, nicht bloß an den Leidenden 'selber, sondern auch an ihrer Mit- und Nachwelt. Diesen Zug der guten alten Zeit sollten wir nie aussterben lassen.

Für die Armen zu St. Leonhard (nur über diese Gemeinde liegen mir die Akten vor, aber in den andern Gemeinden verhält es sich ähnlich) wurde an Legaten und Geschenken vergabt: vom Jahr 1863 bis 1883: Fr. 56,100, nämlich vom Jahr 1863-1878: Fr. 45,900 und vom Jahr 1878-1883: Fr. 10,200. Dabei ist nicht gerechnet das Legat von Fr. 40,000 für die Einrichtung und den Unterhalt der Heizung der St. Leonhardskirche. Innert 20 Jahren nahezu Fr. 100,000 in einer einzigen Gemeinde das ist ein erfreuliches Zeugniß für den Opferfinn in alter und neuer Zeit. Besonders wenn man bedenkt, daß solche dem Pfarrer für die Armen zugestellten Gaben nur ein kleines Zweiglein am großen Baum der Vergabungen an andere Anstalten ist. Dabei ist als erfreu= liches Zeichen auch das noch hervorzuheben, daß häufig aus der Münstergemeinde, wo die Reichen dieser Welt leben und sterben, in die übrigen Gemeinden testirt wird, wo die Armen dieser Welt wohnen, die den Reichen durch ihre Arbeit das Vermögen anjammeln helfen. Die Liebe ist halt doch der beste Demokrat und der wahre Sozialist. Möge sie nie aussterben, besonders nicht in Trauernhäusern und auf Sterbebetten. A.

Zum Lutherjubiläum.

Zwei Zeugnisse über Luther aus der katholischen Kirche findet der Leser in dem Folgenden. Zuerst ein Wort des edlen Professor Döllinger in München, der ein Vertreter des besten, was die katholische Kirche besigt, genannt werden darf. Zweitens eine gemeine Schmähung Luthers, welche die ganze Tiefe der geistigen und sittlichen Versumpfung erkennen läßt, in welche römisches Wesen heute gerathen ist.

1) Döllingers Wort lautet:

Im Geiste Luthers, des Größten unter den Deutschen seines Zeitalters,

ist die protestantische Doktrin entsprungen. Vor der Ueberlegenheit und schöpferischen Energie dieses Geistes bog damals der aufstrebende, thatkräftige Theil der Nation demuthsvoll und gläubig die Knie. In ihm, in dieser Verbindung von Kraft und Geist, erkannten sie ihren Meister, von seinen Gedanken lebten sie; er erschien ihnen als der Heros, in welchem die Nation mit all ihren Eigenthümlichkeiten sich verkörpert habe. Sie bewunderten ihn, sie gaben sich ihm hin, weil sie in ihm ihr potenzirtes Selbst zu erkennen glaubten, weil es ihre innersten Empfindungen waren, denen sie, nur klarer, beredter, kraftvoller ausgedrückt, als sie es vermocht hätten, in seinen Schriften begegneten. So ist Luthers Name für Deutschland nicht blos mehr der eines ausgezeichneten Mannes, er ist der Kern einer Periode des nationalen Lebens, der kürzeste Ausdruck jener religiösen und ethischen Anschauungsweise, in welcher der deutsche Geist sich bewegte, deren mächtigem Einflusse auch die, welche sie bekämpften, sich nicht ganz zu entziehen vermochten. Es war seine überwältigende Geistesgröße und wunderbare Bielseitigkeit, welche Luther zum Manne seiner Zeit und seines Volkes machte, und es ist richtig: es hat nie einen Deutschen gegeben, der sein Volk so intuitiv verstanden hätte und wiederum von der Nation so erfaßt, ich möchte sagen, von ihr eingesogen worden wäre, wie dieser Augustinermönch in Wittenberg. Sinn und Geist der Deutschen war in seiner Hand wie die Leier in der Hand des Künstlers. Hatte er seinem Volke doch auch mehr gegeben, als jemals in christlicher Zeit ein Mann seinem Volke gegeben hat: Sprache, Volkslehrbuch, Bibel, Kirchenlied, und Alles, was die Gegner ihm zu erwidern oder an seine Stelle zu sehen hatten, nahm sich matt und kraft- und farblos aus neben seiner hinreißenden Beredtsamkeit. Sie stammelten, er redete. Nur er war es, der der deutschen Sprache, dem deutschen Geiste das Signal seines Geistes aufgedrückt hat, und selbst diejenigen unter den Deutschen, die ihn von Grund der Seele verabscheuen als den gewaltigen Irrlehrer und Verführer der Nation, können nicht anders, sie müssen reden mit seinen Worten, müssen denken mit seinen Gedanken."

2) Die Schmähschrift lautet:

Dr. Martin Luther, ein Charakterbild. Preis 1 Mark. M. Luder (!) wurde am 10. November 1483 zu Eisleben geboren. Das Kind eines Todtschlägers und einer prügelsüchtigen Mutter wächst er unter Hieben und Quälereien auf, bis sich zu Eisenach eine junge adelige Wittwe des Bänkelsängers annimmt und in sein Herz die ersten Keime der Weltlust legt. Schon früh gewöhnte er sich das Kneipen an, welcher Gewohnheit er bis zu seiner Sterbestunde treu blieb. Sein Charakter ist mit einigen Worten leicht zu kennzeichnen, er wollte Alles aus sich, ohne Hilfe der Obern, ohne Hilfe von Gott. Das Anschlagen von 95 Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg ist an sich nichts bedeutendes, das Verbrennen der Bulle eine Komödie und nach dem Reichstag zu Worms sitt Luther fröhlich auf der Wartburg und spottet der Ohnmacht derjenigen, die mit Kraft die Ordnung des Reichs hätten aufrecht erhalten sollen. Dr. Ed bereitete ihm zu Leipzig eine glänzende Niederlage. Nur flugs ge= scholten das war die einzige Fechtmanier des abtrünnigen Mönchs, und abgefallene Priester, verbitterte Mönche, verkommene Adelige, einige Raubritter und der pfiffige Melanchthon waren seine Spießgesellen. Obgleich Luther ein recht eckiger, grober Rülze war, bekam er doch eine Frau, aber seit der sakri

legischen Heirath geht es rasch mit ihm abwärts; er verzweifelt selbst an seinem Evangelium und wird immer feister, mürrischer und unerträglicher. Seinen großen Ruf verdankt er seinen Streitschriften, in welchen die entfesselte Leidenschaft alle Künste des geistigen Fechthandwerks, Spott, Rohheit und Gemeinheit, ja Alles überbot, was je ein Mann auf dem Gebiet niederer Schmußliteratur leisten konnte. Sicher ist, daß Luther am lezten Abend seines Lebens noch gegessen und getrunken und sehr fröhlich gewesen ist und daß seine Seele wenige Stunden darauf vor dem ewigen Richter stand. Was bleibt nun an Luther zu feiern? Sollen wir ein Jubiläum feiern für seinen gewaltigen Appetit und Durst? für seine gesunde Sinnlichkeit? für seine niedrigen Zoten und Wiße? für die Brandreden, mit welchen er die Bauern in Aufruhr versezt? für die Blutreben, mit welchen er den Mord der Besiegten verlangte? Nur ein Gedanke tritt in Luther mit einer gewissen Neuheit und Größe auf: es ist der Haß gegen Nom und die schwärmerische Wuth, diesen unauslöschlichen Haß als Liebe zu Christus zu erflären."

Das sind einige Gedanken und Säße aus der katholischen Schmähschrift. Es drängt sich uns die Frage auf: wie können orthodore Prote stauten mit den Ultramontanen vielfach sich verbünden und doch ein Lutherfest feiern?

An unsere Lefer.

Wir haben das Vergnügen mitzutheilen, daß mit Neujahr 1884 in unsere Redaktion eintreten wird: Herr Pfarrer Fr. Meili in Zürich. Die von ihm redigirten „Zeitstimmen“ hören dann auf zu erscheinen. Unser Blatt bewahrt seinen bisherigen populären Ton, nur wird es durch die Mitarbeit des bewährten Freundes an Juhalt und Mannigfaltigkeit gewinnen. Um aber die mehr wissenschaftliche und gelehrte Behandlung theologischer Fragen, welche den „Zeitstimmen“ oblag, fortzusehen, wird Herr Meili auf eigene Hand eine theologische Vierteljahrsschrift herausgeben, welcher unsere hervorragendsten Theologen, besonders der historische Verein Zürcher Theologen, die Mitarbeit bereits zugesagt haben. Die Pfarrer und gelehrten Laien werden auf diese Art eine Zeitschrift erhalten, welche sie auf dem gesammten Gebiet der Theologie orientirt, umfassender und gründlicher, als es durch die „Zeitstimmen“ möglich war.

Die Redaktion des Protestantenblattes.

Basler Kirchenzeddel Sonntag den 14. Oktober.
St. Peter St. Leonhard St. Theodor

Müußer

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Sechster Jahrgang.

No 42.

Samstag, 20. Ort. 1883.

Schweizerisches Proteftantenblatt

Herausgeber:

Pfr. A. Altherr und E. Linder in Basel, Pfr. Bion in Zürich.

Wir sollen nur nicht in Sinn nehmen, daß der heilige Geist gebunden
sei an Jerusalem, Rom, Wittenberg oder Basel, an beine oder eine andere
Person. In Christo allein ist die Fülle der Gnade und Wahrheit.
Oecolampad an Futher.

Erscheint jeden Samstag. Man abonnirt auf jedem Postamt der Schweiz und des Auslandes. Preis halbjährlich franko zugesandt 2 Fr. Wer das Blatt in Basel gratis erhalten will, kann dasselbe in der Buchdruckerei J. Frehner, Steinenvorst. 12, abholen.

Merkwürdige Fortschritte der Reform.

„Warum bist du denn eigentlich kein Reformer, da du doch in Allem ganz unsere Ansichten theilst ?" so fragte jüngst mit einem herzhaften Schlag auf die Schulter ein freisinniger Pfarrer den andern. Und der „Andere" gab lächelnd die kühle Antwort: „Weil ich mir nicht gerne unnöthige Unruhe mache und nicht selber den Ast absägen mag, auf welchem ich size.“ "Wie meinst du das ?" fragte der Reformer verdußt. Das meine ich, sagte der kluge Freund, so: „Vom ersten Tag an, wo ich mir Euern Namen geben ließe, gäbe es Aufruhr in meiner Gemeinde; die treusten Zuhörer würden sofort meine Predigt fliehen und ihr vielleicht sogar Parallelgeschichten entgegensetzen, derselben Predigt, die sie jezt gern anhören, obschon ich akkurat dasselbe darin sage, wie Jhr. Darum: ich will keinen Lärm über eine Sache, die mir so natürlich ist wie das Athemholen.“

Dieses Gespräch wiegt eine ganze große Schilderung unserer kirchlichen Zustände auf. Es ist in der That so, daß die ausgesprochene Partei der Reformer äußerlich wenig Fortschritte macht: ihr Nachwuchs ist nicht zahlreich, ihre Arbeit überall mit Nachdruck bekämpft und ihr Name, wie einst der des Paulus, ein Fegopfer aller Leute. 1. Cor. 4, 13. Aber ob auch unsere Person gar unten durch muß und oft fast erliegt, unsere Sache wächst zusehends, unsere Ueberzeugungen greifen wie das Feuer um sich und Ansichten, um deretwillen wir seit Jahrzehnten geschmäht worden sind, kommen uns bald schüchtern und bald keck aus dem gegnerischen Lager entgegen. Als ich jüngst mit einem genferischen Professor auf den Höhen der Friedau durch die Anlagen wandelte, sagte er mit seinem leuchtenden Auge: Danken wir Gott, er vollführt, was wir selbst in die Hand nehmen wollten, durch Andere; unsere Gegner verbreiten immer lauter unseren

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