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Diese ebenso unevangelischen wie unprotestantischen Manöver machten auf sehr Viele den peinlichsten Eindruck. Man kann in der That kaum begreifen, daß ein fremder lutherischer Pastor in der Genfer Republik die Unverschämtheit wagt, die bis zur Unanständigkeit getriebene Intoleranz der norddeutschen Pastoren hier in Scene zu sehen. Es braucht wirklich eine dreiste Stirn dazu, einen Pfarrer der Nationalkirche vor die Thüre desselben Hauses sezen zu wollen, das man dann doch für die sog. positiven Gottesdienste sich erbittet. Es ist eine heilige Pflicht, ein für allemal klar zu stellen, was gewisse orthedore Leutchen für kleinliche Eifersüchteleien und niedere Selbstsucht mit der abgenutzten Phrase zudecken wollen: „Mein Gewissen erlaubt es mir nicht!"

Ein Reisebrief aus der Schweiz.

Unser lieber Freund Schramm, der Dompastor in Bremen, dem wir hiemit seinen Gruß freundlich erwidern, schreibt dem „Deutschen Protestantenblatt" Folgendes: „Ich schreibe Ihnen aus dem schönen Schweizerland, wo ich nach vielen sonnigen Tagen auch einmal Wolken und Nebelwetter habe und in dem gewerbsleißigen Glarus am Fuße des Glärnisch einen Tag der Ruhe nach allem Klettern und Bergsteigen nicht ungern genieße. Ein wunderbar kräftiges, volltönendes und melodisches Geläute mit acht Glocken weckte mich heute früh aus dem Schlummer und brachte mich zu der Frage, ob diese ehernen Stimmen von einer protestantischen oder katholischen Kirche kämen. „Keines von beiden oder beides zugleich", antwortete mein freundlicher Wirth und erklärte mir, daß Glarus für beide Konfessionen nur eine Kirche habe, und daß beide sie sonntäglich nach einander in völliger Eintracht benutzen. Gewiß eine große Seltenheit im Zeitalter des Kulturkampfes, wo der Ultramontanismus fast überall den Streit gegen die evangelische Konfession zur Gewissenssache seiner Anhänger macht und selbst hinter den Altkatholiken her die Kirchen ausräuchert, wenn sie dieselben benutzt haben. In Glarus weiß man von solcher Feindseligkeit nichts; ein aus Katholiken und Protestanten gemeinsam gebildeter Ausschuß besorgt Bau und Besserung des Gotteshauses, und friedlich läuten die Glocken am Sonntag Morgen zur Frühmesse und danach zur evangelischen Predigt. Auf der einen Seite der Kirche steht das protestantische Pfarrhaus, auf der andern das katholische, und freundnachbarlich stellen sich die Insassen zu einander. Klingt das nicht wie ein Märchen aus alten längstvergangenen Zeiten, oder wenn man lieber will: wie eine Weisjagung auf eine künftige bessere Zeit gegenseitiger Toleranz? Auf alte, längstvergangene Zeit führt diese schöne Harmonie, welche sich auch sonst überall in der Stadt zwischen den Konfessionen zeigt und in der Simultankirche nur ihren prägnantesten Ausdruck findet, nun aber auch wirklich und historisch nachweisbar zurück. Ein Pfarrer Tschudi in der Reformationszeit ist ihr

erster Begründer gewesen. Der Mann stand für damalige Zeit gewiß eine wunderbare Erscheinung - so objektiv den streitenden Gegensätzen gegenüber, war einerseits durch seine Vergangenheit noch so sehr katholisch und andrerseits von dem Geiste der Reformation schon so sehr ergriffen, daß er es vermochte, beide Parteien in der Stadt zu befriedigen und beide zugleich zu pastoriren. Den Katholischen las er ihre Messe und den Evangelischen hielt er ihre Predigt und muß dabei doch wohl beiden gerecht ge= worden sein, denn er blieb ihr Seelsorger und bahnte dadurch das noch heut bestehende Einvernehmen zwischen beiden Konfessionen an, so daß er in Wahrheit mit Paulus sagen durfte, er sei Allen Alles geworden, den Juden als ein Jude und den Heiden als ein Heide, um sie Alle Christo zu gewinnen.

Diese Simultankirche, eine stattliche, stylvolle, dreischiffige Basilika, ist so in der That eine wahre Rarität in unserer Zeit, und ich war begierig ihr Inneres zu sehen, um mich zu überzeugen, wie es gelungen sei, den katholischen und den reformirten Ansprüchen an die Ausstattung eines Gotteshauses gleicherweise gerecht zu werden. Aber auch hier kann man beim ersten Blick das gegenseitige Entgegenkommen entdecken. Die Schiffe der Kirche sind ohne allen Schmuck der Wände, nach protestantischer Sitte mit Bänken besezt; die Kanzel an einem Pfeiler, ebenso einfach, dient beiden Predigern zur Verkündigung des Evangeliums; damit aber der katholische Christ seinen Heiligendienst nicht vermisse, schließt jedes der drei Schiffe nach der Apsis zu mit einem Altar ab. Der mittlere, der eigentliche Hochaltar, ist mit einem Bilde der Kreuzigung geschmackvoll geziert, die andern beiden tragen je ein Heiligenbild. Die Protestanten haben das Recht, diese Altäre bei ihren Gottesdiensten zu verhüllen, aber so weit ist man gegen= wärtig auch in der reformirten Kirche von dem Bilderhaß der vergangenen Zeit zurückgekommen, daß die protestantische Gemeinde sich dieses Rechtes nicht bedient und die katholischen Heiligen ohne Störung ihrer Andacht während des Gottesdienstes auf sich herabschauen sieht. Man betrachtet es als eine gewisse Artigkeit gegen die katholischen Mitbürger, das was denselben heilig ist, nicht oftentativ auf eine Stunde aus den Augen zu schaffen.

Als ich die Kirche eben besichtigen wollte, fingen auf's neue die Glocken feierlich zu läuten an und durch die Straßen bewegte sich ein fast endlos langer Leichenzug zum nahe gelegenen Friedhof. Abweichend von unserer Sitte folgten die Männer dem Sarge entblößten Hauptes und als ihre Reihe zu Ende war, kamen fast ebenso viele Frauen. Alle zogen mit auf den Friedhof, wo abermals abweichend von unserer Gewohnheit der Sarg auf den grünen Rasen gestellt wurde, dann die Männer in einer langen schnurgeraden Reihe, man kännte fast sagen in militärischer Ordnung sich aufstellten, der Pastor neben dem Sarge, vier Leichenträger hinter ihm, und nun die Frauen alle in der Zugordnung, wie sie gekommen waren, vor den Prediger und den Sarg hintraten, von der Kolonne der Männer gleichsam eingerahmt. Die Präzision, mit welcher diese ganze Aufstellung erfolgte, machte den Eindruck, daß auch hier ein Stück uralter Sitte und lang eingebürgerter Gewohnheit sich offenbare. An dergleichen Formen hält das Volk überall sehr zähe fest, während sie, so wie sie z. B. hier sich dar

stellten, neu einzuführen sicher unmöglich sein würde. Jeder Versuch der Art würde auf allgemeinen Widerstand stoßen. -Einfach, würdig, weihevoll, kurz waren die Gebete des Predigers. Als sie zu Ende waren, schritt er auf die nächsten Leidtragenden zu und sagte ihnen noch einige Worte des Trostes und nun entfernte sich zu meinem Staunen die ganze Leichenversammlung bis auf die vier Leichenträger vom Friedhof und ließ den Sarg auf dem Rasen stehen. Dann erst nach dem Fortgang des Gefolges machten sich jene Vier an die eigentliche Beerdigung und senkten den Sarg in die Gruft und füllten dieselbe mit Erde. Bei uns würde man glauben die Beerdigung nicht wirklich vollzogen zu haben, wenn man vor diesem letzten Akt seinen Todten verließe, aber hier ist die Sitte eben verschieden und selbst bie nächsten Angehörigen, Wittwe und Kinder, verließen mit den Uebrigen den noch über der Erde stehenden Sarg. So viel thut auch bei religiösen Gebräuchen die Gewohnheit.

Es war ein merkwürdiges und überraschendes Zusammentreffen, daß als ich nach Beendigung der Feierlichkeit mich dem Herrn Pfarrer vorstellte, um mir die Kirche von ihm zeigen zu lassen, ich zu meiner Freude plößlich aus seinem eigenen Munde erfuhr, daß er Niemand anders war als der mir durch seine Schriften über eine neue und bessere Missionsmethode so wohlbekannte und theure Ernst Buß, dessen Buch ich seiner Zeit in der Weser Zeitung“ besprochen habe. Das gab denn ein freudiges Erstaunen, Begrüßen und Aussprechen auf beiden Seiten. Ich mußte im Pfarrhause zu Gaste bleiben und konnte Stunden. lang mit dem begeisterten und erfahrenen Manne über die Aussichten und die Zukunft einer in seinem christlichen Geist zu unternehmenden Mission unter den gebildeten Nationen Asiens mich unterhalten. Pfarrer Buß gehört dem Vorstande des neu gebildeten Missionsvereins an und ist voll froher Hoffnung auf das Gelingen des schwierigen, aber aussichtsreichen Werkes.

Doch wie auf der Reise die Eindrücke schnell wechseln und oft dicht neben und nach einander die disparatesten Erscheinungen an uns vorüberziehen, so gestatten Sie mir, verehrter Freund, auch wohl in dieser Korrespondenz die Anwendung solch bunter Mannigfaltigkeit und folgen mir aus dem stillen, friedlichen Glarus mit einem kühnen Sprung mitten in das Gewühl und großartige Getriebe der Züricher Landesausstellung. Die kleine Schweiz hat hier gezeigt, was sie auf dem Gebiete des industriellen und sozialen Lebens leistet, und Fremde wie Einheimische gehen nicht anders als mit Staunen vorüber an diesen großartigen und komplizirten Maschinen, die in wenigen Minuten Arbeiten verrichten, zu welchen sonst die Menschenhand Wochen und Monate gebraucht hat. Namentlich ist es das Gebiet der Baumwollspinnerei und der Seidenstickerei, auf welchem die Schweiz wunderbare Fortschritte gemacht hat. Es gränzt an das Fabelhafte, was die kolossal großen und dabei doch so seinen Waschinen in dieser Branche leisten, und ein dichter Kranz von Damen pflegt gewöhnlich um die Arbeit dieser leblosen Stickerinnen sich zu schaaren und die Feinheit der kostbaren Spißen und Gewänder zu bewundern, welche da im Umsehen produzirt werden.

Auch die schönen Sammlungen schweizerischer Landesprodukte erregten

meine Freude: große Boote, wie sie auf den Schweizer Seen fahren, Neße und Angeln zum Fischfang, alle Holzarten des Landes, alle Gesteine des Bodens, alle Thiere und Pflanzen, alle Lebensmittel und Früchte, kurz was die Schweiz nur hat und erzeugt, alles, alles findest du hier in schönster Ordnung und lehrhafter Rubrizirung beisammen. Auch die Schulen und Universitäten haben ihre Lehr- und Bildungsmittel ausgestellt, und unter diesen verdient namentlich Prof. Favre's geologische Tafel allgemeine Beachtung. Um nämlich die seltsamen Falten und Schleifen zu erklären, welche man in den sonst wagerecht abgelagerten sedimentären Gesteinsschichten der Erdrinde so häufig findet, hat der Professor das Experiment gemacht, auf einer ausgespannten Kautschukplatte dünne Schichten weißen Thones über einander aufzutragen und dann die Platte sich zusammenziehen zu lassen. Das Ergebniß ist erstaunlich, denn genau jene Verschiebungen und Schleifen, welche wir in dem Gestein der Erdkrufte im Großen finden, haben sich nun hier in dem weißen Thon auf der Kautschukplatte im Kleinen wiederholt, so daß durch das Experiment der Beweis erbracht ist, wie jene Schiebungen der Erde entstanden sein werden. Favre meint, daß der feuerflüssige Kern der Erde, der bei seiner Abkühlung sich beständig zusammenzieht, genau dieselbe Wirkung auf die Schichten der Erdoberfläche üben mußte, wie die Kautschukplatte auf die Thonschichten seines Experimentes.

So bietet die Ausstellung nicht etwa bloßer Neugierde, sondern mannigfacher Belehrung reichen Stoff. Am meisten aber hat mich persönlich ein Zimmer interessirt, in welchem sich eine Art modernen Prangers für die Unwissenheit und Unbildung bereitet findet. Die Sache verhält sich folgendermaßen. In einem Raume sind sämmtliche statistische Angaben über die Schulen und die Lehrer der Schweiz zusammengebracht und durch kolorirte Tafeln anschaulich dargestellt. Da findet man nicht bloß die Zahl der Schulen, der Lehrer, der Lehrerinnen, der Schüler und Schülerinnen, die Klasseneintheilung, die Angabe der Lehrgegenstände und Lehrpläne, sondern auch statistische Darstellung über das Lebensalter, das Dienstalter, den ledigen oder verheiratheten Stand der Lehrer und Lehrerinnen, kurz über Alles was den Schulfreund interessirt. Zudem erstreckt sich die Statistik nicht bloß anf den gegenwärtigen Stand des Schulwesens, sondern auch auf die Vergangenheit, und die Vergleichung beider fordert unwillkürlich zu der Beobachtung eines Fort- oder Rückschrittes heraus.

Inmitten all dieser sehr ernsten und wichtigen Daten aus dem Leben der Schule steht nun auch das Ding, welches ich den modernen Pranger genannt habe. Irgend ein spekulativer Kopf ist nämlich auf den genialen Einfall gekommen, in dieser statistischen Sammlung auch einmal die Lehrergehälter und ihre Veränderung in den letzten 10 Jahren anschaulich darzustellen, aber nicht graphisch und in Farbentabellen, sondern viel drastischer und der Fassungskraft der großen Menge außerordentlich einleuchtend. Dieser erfindungsreiche Kopf hat nämlich die Summe des Durchschnittsgehaltes für jeden Kanton an einer aufrecht stehenden Rolle von Fünffrankenthalern dentlich gemacht und bei jedem Kanton der Eidgenossenschaft zwei solche Rollen in natura aufgepflanzt, von denen die eine das Lehrergehalt des Jahres 1871, die andere dasjenige von 1882 angibt. Die Namen der

Kantone stehen natürlich an der Wand über diesen Rollen und sind nach der Höhe der letzteren geordnet, so daß die größten links, die kleinsten Rollen rechts zu stehen kommen. In dieser Anordnung gewährt das Ganze den Anblick einer Reihe von Orgelpfeifen, und erst wenn man die für die Volksbildung und die Werthschätzung des Volksunterrichtes ungeheure Wichtigkeit dieser Thalersäulen erkannt hat, verwandelt sich der beim ersten Anblick komische Eindruck in eine tief-ernste Betrachtung.

Denn welche Anklage und welches Lob wird durch diese Kolumnen den einzelnen Kantonen öffentlich und vor aller Welt auf der Ausstellung zuertheilt! Stellen sich hier nicht durch ihre eigene Handlungsweise alle Landesgemeinden das Urtheil darüber aus, was sie von der Volksbildung halten, wie hoch oder gering sie den Stand schätzen, dem sie die Ausbildung ihrer Jugend anvertraut haben? Und ist es nicht in Wirklichkeit geradezu ein Pranger für diejenigen Kantone, welche in diesen legten 10 Jahren, während in der ganzen Welt die Stellung des Volkslehrers verbessert worden ist, statt dessen das Gehalt ihrer Lehrer heruntergesezt haben? Erfreulicherweise sind es unter allen 22 Kantonen nur zwei, bei denen dies der Fall ist, und ein einziger Blick auf diese Thalerrollen lehrt uns, welchen Kantonen dieser Pranger bereitet ist. Es sind natürlich zwei stark katholische Länder, Zug und Uri, von welchen das letztere wahrscheinlich den Stierkopf in seinem Wappen immer neu zu verdienen sich Mühe geben mag.

Aber auch die sonstige Gruppirung der Kantone nach der Höhe der Lehrergehälter ist nicht ohne kulturhistorisches Interesse. Von oben an gerechnet folgen sich die einzelnen nämlich in folgender Reihe: obenan mit der höchsten Ehrensäule Baselstadt, dann Zürich, Appenzell A. Rh. (evangelisch), Schaffhausen, Glarus, Genf, Neuenburg, Baselland, Thurgau, Waadt, Aargau, Bern, Luzern, St. Gallen, Solothurn, Zug, Freiburg, Schwyz, Appenzell J. Rh. (katholisch), Obwalden, Uri, Nidwalden, Graubünden, Tessin, Wallis.

Und was ergibt sich nun in konfessioneller Beziehung ungesucht und ohne alle Künstelei ganz von selbst? Die ersten dreizehn Kantone von Basel bis Bern sind Länder mit fast rein protestantischer Bevölkerung, die übrigen von Luzern bis Wallis sind entweder von rein katholischer Bevölkerung oder doch zur Hälfte katholisch. Und am stärksten tritt dieser Unterschied beim Kanton Appenzell hervor, dessen protestantische Hälfte die dritte Stelle von oben, dessen katholischer Theil die siebente von unten einnimmt. Mönche und Priester waren einst die Lehrer der mittelalterlichen Völker; was sie für die Gegenwart zu bedeuten haben, das, denke ich, ergibt sich wieder einmal mit schlagender Evidenz aus diesem kleinen Beispiel.“

Sprüche

von Otto Sutermeister. (Aus „Welt und Geist.")

Das schon ist Freud und Lohn, das Schöne nur zu sehen;
Denn eine feine Kunst ist's schon, Kunst zu verstehen.

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