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Sechster Jahrgang.

No 32. Samstag, 11. August 1883.

Schweizerisches Proteftantenblatt

Herausgeber:

Pfr. A. Altherr und E. Linder in Basel, Pfr. Bion in Zürich.

Wir sollen nur nicht in Sinu nehmen, daß der heilige Geist gebunden
sei an Jerusalem, Rom, Wittenberg oder Basel, an deine oder eine andere
Person. In Christo allein ist die Fülle der Gnade und Wahrheit.
Decolampad an Luther.

Erscheint jeden Samstag. Man abonnirt auf jedem Postamt der Schweiz und des Auslandes. Preis halbjährlich franko zugesandt 2 Fr. Wer das Blatt in Basel gratis erhalten will, kann dasselbe in der Buchdruckerei J. Frehner, Steinenvorst. 12, abholen.

Zur Hochschulfeier in Zürich.

Erst nach dem Feste erscheint dieses Basler Blatt, um der Hochschule Zürich zu ihrem fünfzigsten Geburtstag die herzlichsten Glückwünsche darzubringen. Aber was heute etwas verspätet schwarz auf weiß geschieht, das haben wir von lieben Freunden begleitet bereits in lebendigerer Weise ausgesprochen, indem wir uns mit Leib und Seele unterteuchten in die Fluth von Licht und Geist, von Farben und Tönen, von Freundschaft und edler Geselligkeit, welche an den Tagen vom 2. und 3. August am schönen Zürchersee uns umwogte.

Auf stolzem Hügel mit herrlichem Rundblick erhebt sich das monumentale mit dem eidgenössischen Polytechnikum verbundene Hochschulgebäude. „An dieser Stätte hätte man bei uns in Deutschland eine Kaserne gebaut!" meinte einst bei einem Besuche David Friedrich Strauß, der sonst kein Lobredner schweizerischen Lebens war. Aber werthvoller als alle diese Steine und all die schöne Aussicht sind die Ströme des Wissens und des Erkennens, welche seit einem halben Jahrhundert von dieser Hochburg freier Wissenschaft hinauswandern in den Kanton, in die Eidgenossenschaft, ja gleich dem Rhein und der Rhone hinaus auch in die große, weite Welt. Und es darf wohl gesagt werden, daß es zu allen Zeiten die ernste und redliche Bemühung aller Lehrenden und Lernenden gewesen ist, den Strom der Wahrheit rein und tief zu erhalten, ihn zu bewahren vor gefährlichen Trübungen und seichter Oberflächlichkeit, damit er, wozu er ja schließlich doch allein da ist, läutere und reinige den Leib wie die Seele des Volkes von allen Schlacken und es immer gebildeter, gesitteter, humaner mache.

Zürich durfte aber am Ehrentage seiner Hochschule mit besonderm Stolz seiner theologischen Schule gedenken. Schon in den Tagen der Re

formation entstanden ward sie das Senfkorn, aus welchem sich dreihundert Jahre später der breitäftige Baum der Universität entwickelte. Der Geist Ulrich Zwingli's brauchte am Feste nicht erst aufgerufen zu werden; wir sahen während des Festaktes im Großmünster, in welchem er einst das Lautere Evangelium verkündete, während der Begrüßung der auswärtigen. Gäste im Rathhause, in welchem er so manchen Strauß gegen die Abgesandten des Bischofs zu Konstanz und gegen die Wiedertäufer siegreich durchführte, wir sahen die Gestalt des edlen Toggenburgers mit freundlichem Gruße durch die Schaaren der Alten und Jungen dahinschreiten, und helle Freude über das größer gewordene und frei und human gebliebene Zürich und seine Schule leuchtete aus seinem Antlig. Diese theologische Schule Zürichs ist aber auch nach dem frühen tragischen Ende ihres Begründers eine Leuchte evangelischer Freiheit geblieben nicht blos für die evangelische Eidgenossenschaft, sondern auch für das reformirte Deutschland, für Holland und England, für die Protestanten Ungarns und Siebenbürgens. Wenn einerseits aus diesen Ländern Jahr um Jahr wißbegierige Jünglinge an die Ufer der Limmatstadt wanderten, um protestantisches Wesen an seiner reinsten Quelle kennen zu lernen, so hat Zürich den Ruhm erlebt, mehrere seiner Theologen nach Heidelberg und Leyden berufen zu sehen und wenn man in einem Zeitalter, in welchem die theologischen und kirchlichen Fragen im Vordergrunde standen, die besten Namen nanute, so waren immer einige Zürcher Theologen unter ihnen. Freilich vermochte sich auch die Kirche und Theologie Zürichs den Umarmungen einer geistlosen, buchstabenklauberischen, bekenntnißstarren Orthodoxie nicht auf die Dauer zu erwehren. Aber früher als z. B. in Basel sind durch die Geister voll sprühenden Gemüthlebens wie Lavater und Pestalozzi, voll ruhigen, nüchternen Denkens wie den Chorherr Schultheß, diese Bande gesprengt und die Pfade für eine freiere Entwicklung des religiösen und kirchlichen Lebens geebnet worden. Mit der Entstehung der eigentlichen Hochschule aber hat Zürich seine bedeutsame Stellung in der theologischen und kirchlichen Welt auf's neue eingenommen. Gleich von Anfang an haben an ihr Männer wie Ferdinand Hizig, der Pfadfinder in dem Urwald alttestamentlicher Forschung, Alexander Schweizer, der scharfsinnige Dogmatiker und vortreffliche Vorbereiter auf's praktische Pfarramt gewirkt und neben diesem leßtern wirken noch heute ein Biedermann, ein Volkmar, um anderer zu geschweigen. Man hat diese theologische Schule bemängelt, bekrittelt, bespöttelt, verhöhnt, man hat in seines Nichts durchbohrendem Gefühle in einem gewissen Blatt gewagt, von einer windigen ostschweizerischen Theologie zu sprechen. Aber die theologische Schule Zürichs geht darüber stolz hinweg und zeigt ihre Werke; „Die Glaubens

lehre" von Alexander Schweizer, „Die Dogmatik“ von Biedermann, „Das Leben Jesu“ von Keim, die exegetischen Werke von Hihig und Volkmar, um wenigstens einiges zu nennen. Wenn einst die Geschichte der Theologie des 19. Jahrhunderts geschrieben wird, da werden die Namen dieser Männer und ihrer Werke als Zeugnisse eines ebenso frommen wie freien Geistes gepriesen werden und Zürich wird als eine der ersten Städte genannt werden, welche (die Abberufung von Strauß abgerechnet) die Fahne ächten Protestantismus fort und fort hochgehalten hat. Möge es immer so bleiben!

Wir da unten am Rheine müssen das ganz besonders wünschen. Wie in den Tagen der Reformation der Basler Reformator Dekolampad an Zwingli und seinem Geist sich nährte und stärkte, was das ächt protestan= tische Basel nicht vergessen und am Geburtstage Zwingli's dankbar anerkennen wird, so sind auch in der religiösen Bewegung der Gegenwart unsere Blicke nach Zürich gerichtet. Dort haben wir unsere theologische Ausrüstung geholt, dort den unumwundenen Wahrheitsmuth uns errungen, welcher nicht blos in der Studentenzeit, sondern auch noch im Pfarramt der Ueberzeugung lebt: „Wer die Wahrheit kennet und saget sie nicht, der ist fürwahr ein erbärmlicher Wicht." Dort haben wir zu den Füßen unvergeßlicher Lehrer und Prediger wie Hirzel und vor allem Lang die Begeisterung erworben, welche in dieser Zeit Gewog nöthig ist, um den Gegnern von rechts zum Troß frei und denen von links zum Trotz fromm zu sein und zu bleiben. Dort haben wir uns auch während der festlichen Tage, die für uns wie ein Bad der Wiedergeburt waren, in der Begrüßung lieber Lehrer und treuer Freunde, im Aufleben der schönsten Jugenderinnerungen und Jugendgelübde neuen fröhlichen Muth geholt zu dem Kampfe, der uns verordnet ist. Habe Dank, mein Zürich, für Alles, was du je und je an uns gethan! O. B.

Aus den Ferien.

IV.

Wer für die Armen ein Herz hat, braucht deswegen kein Freund des Gesindels zu sein. Im Gegentheil: gerade wer mit eigenen Augen gesehen hat, wie unsäglich hart und mühselig ehrliche Familien durch die enge Pforte zwischen Konkurs und Verbrechen sich hindurchringen, gerade der empört sich am lebhaftesten gegen das wilde Heer der Vagabunden, welches unsere Grenzstadt Basel immerwährend belagert und brandschatzt. Wenn ich nicht irre, fängt die Polizei der Stadt Basel jeden Monat über 600 Dirnen und Vaganten auf; ein paar Dußend Polizisten, Richter und Weibel

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haben die ganze Woche mit ihnen zu schaffen; zahllos sind die Fälle, wo das leichtsinnige Volk zu einem Thor hinaus spedirt wird und zu einem andern Thore wieder hereinspazirt. Sehr viele Privaten hiesiger Stadt, besonders solche, die allgemein bekannt sind, werden immerwährend heimgesucht: jezt meldet sich eine „Schriftstellerin“ aus dem Elsaß und bindet dir in fünf Minuten zehn Bären auf; kaum ist sie fort, so klopft ein verkannter „Musiker" aus Preußen; ihm auf der Ferse folgt ein evangelischer Glaubensbruder" aus Bayern, diesem ein „Dichter“ aus Schwaben u. s. w. Alle diese Stromer wollen durchaus nicht etwa betteln", manche beweisen. aus ihren Papieren, daß sie sogar aus „guter Familie“ sind, aber wenn sie ohne Almosen abziehen müssen, so deklamiren sie laut durch den Hausgang über die „elende Schweiz“ und die rackerigen Schweizer. Der deutsche Hülfsverein, welcher hier besteht, ist ohnmächtig gegenüber dieser Fluth, und den vielen angesehenen und ehrenhaften Deutschen, welche unter uns wohnen, ist es höchst peinlich, daß die Arbeit der hiesigen Polizei und Gerichte sich zum großen Theil mit ihren Landsleuten befassen muß wie könnte da geholfen werden?

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Mir scheint, es wäre der Plage wohl abzuhelfen und zwar auf eine Art, der sich die staatliche Gemeinschaft vor den Anforderungen der Huma= nität nicht zu schämen hätte. Mit dem massenhaften Abschub und der Pritsche ist nicht geholfen, und in's Zuchthaus darf man einmal nicht sperren, wer nicht einen bestimmten Paragraphen des Strafgesetzes förmlich übertreten hat. Uns fehlt ein Zwangsarbeitshaus. Hätten wir auf dem Bruderholz so eine breitangelegte Anstalt, in welcher versorgt werden könnte, wer auf Bettel und Schwindel und Liederlichkeit ertappt würde, eine Anstalt, welche sich selbst erhalten müßte, weil bei der strengsten Arbeit und weitgehender Strafkompetenz Nahrung und Logis auf das allereinfachste bestellt wäre, so würde Basel vom Heereszug der Stromer bald ebenso ängstlich gemieden werden, wie es jetzt mit Vorliebe auf- und abgesucht wird.

Ein solches Zwangsarbeitshaus mit der Inschrift: „wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“, thäte auch der hiesigen Armenpflege die besten Dienste. Wer auf diesem Gebiet zu arbeiten hat, der weiß, daß in zahlLosen Fällen die Unterstützung so fruchtlos ist, wie wenn man Wasser in ein Sieb gießt, weil dem Mann oder der Frau alle Liebe zur Arbeit und Ordnung, jede Kraft der Selbstbeherrschung verloren gegangen ist. Mit ge= bundenen Händen müssen wir Tag für Tag für Tag zusehen, wie trunksüchtige und liederliche Ehegatten mit sichern Schritten dem Verbrechen zulaufen und in den Kindern eine Generation in die Welt seßen, aus denen fast mit Naturnothwendigkeit Kandidaten des Spitals oder Zuchthauses

werden. Dagegen vor dem Spital oder Zuchthaus erretten und so dem größern Elend vorbeugen können wir nur in sehr geringem Maße, eben weil uns eine Anstalt fehlt, in welcher durch Arbeit und sittlich-religiöse Pflege aus dem Menschen möglicherweise noch etwas zu machen wäre. In einer solchen Anstalt würde mancher Vagabund, den wir von der Thüre weisen müssen und dadurch in sein Verderben hineinstoßen helfen, sich als rettungsfähig erweisen. Es sind unter ihnen sicher Viele, in deren Herz der gute Same der Frömmigkeit und Tugend von einer guten Mutter oder einem treuen Lehrer her noch schlummert, er müßte bloß erweckt und gepflegt werden, um ein Leben zu erhalten, das sonst verloren geht. So oft der Polizist ein Trupp blutjunger Leute durch die Gassen unserer Stadt der Grenze zuführt, treiben wir einen verlorenen Sohn oder eine verlorene Tochter dem bittersten Verhängniß zu, die wir als Menschen und Christen davor zu bewahren die Pflicht und die Kraft hätten. Der Staatsmann, welcher sein Ansehen und seine Energie einsetzen wollte, unsere Stadt um eine solche Anstalt, wie sie England besißt, zu bereichern, der würde unserer Polizei und unsern Gerichten die Hälfte ihrer Arbeit abnehmen, eine Quelle des Unheils verstopfen und sich eine Bürgerkrone verdienen.

Ein Wort über Sozialismus.

A.

Der Sozialismus ist vernunftgemäß. Er muß es schon sein aus Grund seiner Eigenschaft als von Gott dem Menschen gesetzte Entwicke lungsbedingung; er ist es aber auch deßhalb, weil ein vernünftig sittliches Handeln nur in der Sozialität möglich ist und die Ausübung persönlicher Tugend geradezu von ihr abhängt; er ist es ferner auch aus dem Grunde, weil alle größern Unternehmungen durch Vereinigung der Kräfte, folglich gemeinschaftliches oder soziales Handeln bedingt sind; er ist es endlich auch deßhalb, weil die Erreichung der menschlichen und menschheitlichen Bestim= mung die Herstellung einer allgemeinen Wohlfahrt ohne ihn nicht denkbar ist. Der Sozialismus ist biblisch. Enthält schon das alte Testa= ment in Lehre und Beispiel die bestimmtesten Anweisungen zur Pflege eines geselligen, auf gegenseitige Freundlichkeit und Hilfeleistung gerichteten Lebens: so wird im neuen Bunde dieser Menschenpflicht die höchste Vollendung, und das Christenthum erweist sich nach seinem ganzen Umfang und Inhalt so gewiß als eine feierliche Bestätigung der sozialen Prinzipien, als gewiß und entschieden es die Gottes- und Nächstenliebe zur „Hauptsumma des Gebotes", zum Kernpunkt der wahren Lebenskultur und zur Triebkraft jeder bessern Handlungsweise erklärt.

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