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Sechster Jahrgang.

No 27.

Samstag, 7. Juli 1883.

Schweizerisches Proteftantenblatt

Herausgeber:

Pfr. A. Altherr und E. Linder in Basel, Pfr. Bion in Zürich.

Wir sollen nur nicht in Sinn nehmen, daß der heilige Geist gebunden
sei an Jerusalem, Rom, Wittenberg oder Basel, an deine oder eine andere
Person. In Christo allein ist die Fülle der Gnade und Wahrheit.
Oecolampad au Futher.

Erscheint jeden Samstag. Man abonnirt auf jedem Postamt der Schweiz und des Auslandes. Preis halbjährlich franko zugesandt 2 Fr. Wer das Blatt in Basel gratis erhalten will, kann dasselbe in der Buchdruckerei J. Frehner, Steinenvorst. 12, abholen.

Vom Schußengel der Kinder.

Als vor einigen Wochen in Sunderland, einer Stadt an der englischen Küste, 200 Kinder auf Einem Fleck um's Leben kamen eine schrecklich große Zahl für eine Stadt, die an Größe Basel nicht viel übertrifft da konnte man die Menschheit wieder studiren. Auffallen muß einem stillen Beobachter zuerst, wie sehr sich die heutige Gesellschaft an derartige Unglücksfälle großer Menschenmassen gewöhnt hat: Sonntag Zugentgleisung, Montag Brand im Theater, Dienstag Brand im Zirkus, Mittwoch Schiffbruch der Auswanderer, Donnerstag Dynamiterplosion, Freitag Brückeneinsturz man liest wie viel Dußend oder Hundert Todte, schlägt das Blatt um und geht weiter. Stellt man noch Betrachtungen an, so sind es in erster Linie solche, die an's Mittelalter erinnern. Ich las in einem Blatt: Jene 200 Kinder in Sunderland sind im Theater umgekommen, mitten im Taumel der Weltfreude über die Künste, die ein Zauberer den 1500 versammelten Kindern vormachte seht, wenn ihr Eltern eure Kinder nicht dem Tod gewaltsam in den Rachen treiben wollt, so bewahrt sie vor dem Theater, diesem Tempel der Sinnenlust!" Aber die so mittelalterlich urtheilen, muß man doch wohl daran erinnern, daß vor einigen Jahren im katholischen Dorf Wegenstetten eine große Schaar Schulkinder bei der christlichen Weihnachtsfeier ebenso elend um ihr junges Leben kamen und daß in San Franzisko vor einem Jahrzent am Tag Maria Himmelfahrt eine ganze Kirche voll andächtiger Beter in Feuer und Rauch zu Grunde gingen.

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Indeß ist mir die Stimme des handgreiflichsten Aberglaubens persönlich immer noch viel lieber, als das Geflunker einer gedankenlosen Aufklärung, welche bei solchen Anlässen jedesmal meint, mit ein paar Phrasen von „dunkeln Räthseln“ des Weltlaufs dem Gößen landläufiger Gedankenlosigkeit ihr Opfer darbringen zu müssen. Worin soll den eigentlich das dunkle Räthsel bestehen? Etwa darin, daß ein Balken bricht, wenn er zu schwer belastet wird? oder daß Kinder ersticken, wenn einige Hundert auf

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steiler, dunkler Treppe einander nach unten gegen eine fast verschlossene Thüre drücken? oder daß das Feuer unt sich greift, wenn Hunderte in wahnsinniger Art gleichzeitig zu einer Kirchenthüre hinaus wollen und die Kleider und die Haare einiger Damen bereits in hellen Flammen stehen? Ich dächte, das sei natürlich, entseßlich natürlich, weil es auf ewigen Gesehen beruht, die stündlich rings um uns her ihre Allgewalt üben, ohne daß wir uns darüber als über ein Räthsel beklagen. Oder soll das eine solche Katastrophe zu einem besonders dunkeln“ Räthsel machen, daß Unschuldige dabei umkommen und harmlose Kinder ein entsetzliches Ende nehmen? Ich meinte, um das zu erleben, daß Unschuldige in gräßlicher Weise verunglücken, brauchen wir keine besondern Katastrophen aufzusuchen, es geschieht tausend- und millionenfach im alltäglichen Weltlauf. Auch das kann kaum als besonders räthselhaft bezeichnet werden, daß wo hundert oder tausend Menschen sich zusammen finden, gelegentlich hundert oder tausend miteinander in Ein Grab fallen, wenn dabei die einfachsten schü henden Vorkehren versäumt werden. Eben diese Versäumniß! Die will man sich nicht gestehen. Der eitle Mensch muß immer einen Sündenbock haben und wäre es auch das „dunkle Räthsel" des Schicksals. Wenn 1500 Kinder ein Theater besuchen und dasselbe von unten bis oben anfüllen; wenn so und so viel hundert Väter und Mütter ihr Kind dem Zauberer nachlaufen lassen, ohne zu fragen, ob auch für Ordnung und Sicherheit gesorgt sei; wenn ein Künstler, um Geld zu gewinnen, die schaulustige Jugend in seine Zauberneze zieht und um Geld-Gewinns willen es unterläßt, das erforderliche Aufsichtspersonal anzustellen; wenn eine städtische Behörde solche Massenansammlungen der Jugend gestattet und es nicht in ihrer Pflicht hält, dieselbe mit dem nöthigen Schutz zu umgeben, so soll Niemand von „dunkeln Räthseln“ munkeln, falls sich das Freudengejauchze plötzlich in herzzerreißenden Jammer verwandelt, sondern da steht den vernünftigen Menschen und vor Allem den Christen nur das zu, an ihre Brust zu schlagen und zu gestehen: hier hat eine ungeheure Verschuldung ihre ungeheure Strafe empfangen. Christus hat ein wunderschönes, tiefes und wahres Wort gesprochen von einem Schutzengel der Kinder; aber dieser Schußengel ist kein Stellvertreter für träge und leichtsinnige Menschen, die ihre Kinder muthwillig den schwersten Gefahren aussetzen. Christus leitet sein Wort von den Engeln der Kinder (Math. 18, 10) nicht umsonst mit der Warnung ein: Sehet zu, daß Ihr keines dieser Kleinen verachtet! Wir haben ein inniges Mitleiden für die armen Eltern, denen man ihre 4-, 6-, 10 und 12jährigen Kinder erstickt und zerbrochen aus dem wirr verschlungenen Leichenkneuel hinter der Thüre des Theaters hervorzieht; wir können uns kaum einen schneidigeren Schmerz denken, als den eines so heimgesuchten Vater- oder Mutterherzens; wer in solchem Fall gedankenLos sagen wollte: „es ist ja nur ein Kind“, der müßte nicht wissen, welch ein himmlischer Schatz in so einem Kinde liegt; aber der bittere Stachel in solchem Elternschmerz muß eben doch die Stimme des Gewissens sein, welche sagt: Um unserer und anderer Menschen Sünde willen! A.

Die drei Ringe.

In dem Buch voll schlüpfriger Novellen, genannt Dekameron, erzählt Boccacci eine Geschichte von drei Ningen, welche zu einem sehr schiefen und oberflächlichen Urtheil über die verschiedenen Religionen die Veranlassung gab. In der dritten Novelle des ersten Buches erzählt B. von einem weisen Juden Namens Melchisedek, dem der arme Sultan Saladin folgende Frage zu lösen aufgibt: Trefflicher Mann, ich habe von verschiedenen Leuten gehört, daß du sehr weise und in geistlichen Sachen erfahren bist; darum möchte ich gern von dir wissen, welche von den drei Lehren du für die wahre hältst, die jüdische, die mohamedanische oder die christliche. Der scharfsinnige Zude merkte, daß der Sultan ihm die Frage blos stelle, um Händel mit ihm anzufangen und gab Folgendes zur Antwort: „Mein Herr, Ihr habt mir da eine große (bella) Frage gestellt, um Euch aber zu sagen, wie ich darüber denke, laßt Euch vorher von mir eine kleine Geschichte erzählen. Wenn ich nicht irre, hörte ich oft sagen, daß einst ein reicher, vornehmer Mann war, der unter andern Schäßen einen sehr schönen und kostbaren Ring besaß. Diesen wollte er wegen seines Werthes und seiner Schönheit immer bei seinen Nachkommen erhalten wissen und darum befahl er, daß derjenige unter seinen Söhnen, welchem er diesen Ring hinterlassen würde, als sein Erbe angesehen werden sollte, und alle seine andern Brüder sollten ihn als das Haupt der Familie ehren und hochachten. Derjenige, der den Ring erbte, beobachtete gegen seine Nachkommen das gleiche Verfahren und so vererbte sich der Ring vom Vater auf den Sohn durch viele Geschlechter, bis ihn endlich Einer bekam, der drei liebenswürdige und tugendhafte Söhne hatte, die dem Vater alle gleich gehorsam waren und deswegen alle drei gleich von ihm geliebt wurden. Die Jünglinge wußten, was für eine Bewandtniß es mit dem Ning habe und wünschte Jeder vor den Uebrigen der Geehrteste zu sein; sie bestrebten sich um die Wette, den Ning zu bekommen, und ein jeder von ihnen bat den Vater, der schon alt war, ihm denselben nach seinem Tode zu vermachen. Der gute Vater, der seine Söhne gleich lieb hatte und selbst keine Wahl unter ihnen zu treffen wußte, versprach einem Jeden, ihm den Ring zu geben und ersann ein Mittel, sie alle drei zu befriedigen. Er ließ bei einem geschickten Meister heimlich zwei andere Ringe machen, die dem ersten so völlig ähnlich waren, daß er selbst kaum im Stande war, den ächten von den nachgemachten zu unterscheiden. Auf seinem Todbett gab er jedem seiner drei Söhne insgeheim einen von den drei Ringen. Nach seinem Tode wollte nun ein Jeder von den Söhnen der Erbe sein und den Vorrang vor seinen Brüdern behaupten und ein Jeder zog, sein Recht zu beweisen, seinen Ring hervor. Da war aber ein Ring dem andern so ähnlich, daß es nicht möglich war, den ächten zu erkennen, und die Frage, wer der rechte Erbe des Vaters wäre, blieb unentschieden und bleibt unentschieden bis auf diesen Tag. Und eben dieses sage ich Euch, mein Herr, von den drei Religionen, die Gott der Vater den drei Völkern gegeben hat. Ein jedes derselben glaubt, sein Erbtheil, seine Lehre und seine Geseze direkt von Gott empfangen zu haben.

Von welchem unter ihnen aber sich dieses mit Wahrheit behaupten lasse, das bleibt, so wie mit den drei Ringen, unausgemacht."

So lautet die Erzählung bei Boccacci. Der Deutsche Lessing bereicherte sie um einen tiefsinnigen Zug, indem er dem ächten Ring die geheime Kraft zuschreibt, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, und diese Kraft auch als das einzig sichere Kennzeichen der ächten Religion erklärt. Darin wird Lessing ewig Recht behalten, ja das alte Evangelium Jesu selbst wies ihm dazu schon vor 1800 Jahren den Weg. Hingegen ist wohl nichts verkehrter als die landläufige Meinung, es gebe eine ächte und daneben allerlei nachgemachte Religionen. Bei dieser Anschauung bliebe freilich die Frage, welches die wahre Religion sei, in alle Ewigkeit unausgemacht. Wir denken aber, es werde mehr und mehr eine andere Anschauung überall durchdringen, wonach die Religion als etwas erkannt wird, das auch gewachsen ist und sich entwickelt hat. Aus den heidnischen Naturreligionen wuchs die Verehrung Eines Gottes und die Lehre Christi ist die reinste Blüthe am Baum jüdischer Religion, der Islam ein Flick- und Pappwerk aus heidnischen, mosaischen und christlichen Lappen. Wie man nun von einem Baum nicht wird sagen können, der untere Theil sei ächt und der obere nachgemacht, so gibt es auch keine ächte oder unächte Religion, sondern nur Religion höherer und niederer Art. Der römische Papst, Heiligenbilder- und Reliquiendienst ist eine durchaus ächte Religion, ächtes, naturwüchsiges, unsterbliches Heidenthum unter christlichem Namen. Daraus wuchs, wie das Zudenthum aus dem Gößendienst, der Protestan tismus, eine höhere Art christlicher Religion. Die protestantische Orthodoxie mit ihrem Buchstabendienst ist eine ächte Religion, die ächte, naturwüchsige, unsterbliche Wiederholung des jüdischen Schriftgelehrtenthums christlichem Namen. Ueber beide hinaus und aus beiden heraus will fort und fort Christus wachsen als die höchste Art der Religion, als geistige Anbetung und Liebesleben.

Ein freisinniger Orthodoxer.

I.

A.

unter

Ein freisinniger Orthodorer? Eine solche Naturerscheinung mag einem baslerischen Laien fast ebenso undenkbar vorkommen, wie das bekannte hölzerne Eisen und bleierne Gold. Und dennoch möchten wir diesen Titel, und zwar in ehrendem Sinne, dem orthodoxen Professor Astié in Lausanne zutheilen, welcher bereits im Basler Taufstreit mit entschiedenem Freimuth auf Seite der hiesigen Freisinnigen Posto gefaßt hat. Wir glauben den Lesern dieses Blattes einige Partien seines an der lehtjährigen Predigerversammlung zu Liestal gehaltenen Referates, welches frei von aller molluskenartigen Verschwommenheit sich durch große Klarheit der Begriffe und der Sprache auszeichnet, nicht vorenthalten zu dürfen.

Wir lassen heute in freier Uebersetzung zunächst einen Abschnitt folgen, in welchem sich Herr Astié über seine Stellungnahme zu den verschiedenen theologischen Richtungen der Gegenwart ausspricht:

„Auf welche Parteibank werden Sie sich sehen, falls Sie gewählt werden? wurde eines Tages ein Politiker gefragt. Ich werde mich an die Decke setzen, lautete die Antwort. Das ist der einzige Play, den auch ich mir in unserm theologischen Parlament wünsche! Ich möchte beim Kronleuchter sitzen, recht nahe beim Licht und bei der Wärme. Es gilt ohne jeglichen Rückhalt alle Ergebnisse einer unparteiischen und gesunden Wissenschaft anzunehmen, ohne zu befürchten, daß diese Wissenschaft uns jemals dahin bringen könnte, das ewige und lebendige Evangelium, den unzerstör baren Felsen unseres Glaubens, in's leere Nichts auflösen zu müssen.

Ich ließ mir erzählen, daß jüngsthin ein Theologe, welcher Gelehrsamkeit mit Wit verbindet, in großer Verlegenheit gewesen sei, als er sich entscheiden sollte, ob er zur Partei der Reformer oder der Vermittler gehöre. Ich glaube indessen", sagte er schließlich, daß ich Reformer bin; denn die Thorheiten, welche die Vertreter dieser Richtung begehen, berühren mich weit unangenehmer, als die der andern."

Was mich betrifft, so sind mir die Thorheiten aller Parteien gleicher Weise peinlich. Einsichtsvollen Männern von Rechts kann ich es nur schwer verzeihen, wenn sie sich weigern, die in unserer Gegenwart für das Christenthum geschaffene Lage frank und frei anzunehmen. Ich könnte fast böse werden auf sie, mich über sie erzürnen, wenn sie es nicht über sich bringen, eine neue Fassung der christlichen Wahrheit, welche uns durch die protestantische Wissenschaft, mit der doch auch sie sich brüsten, auferlegt wird, freudig zu begrüßen. Mit Betrübniß muß ich immer wiederholen, daß oft die ausgesprochenen Feinde des Christenthums mehr wahrhaft evangelischen Bestrebungen dienen, als gewisse Orthodoxe, welche unter Lautem Protest gegen die Anklage, Nationalisten zu sein, ihre Zeitgenossen dem Evangelium entfremden, indem sie es ihnen mit großer Hartnäckigkeit in derjenigen Form aufzwingen wollen, welche ihm der wenig gebildete und durchaus nicht unfehlbare Geist der Schriftgelehrten vergangener Jahrhunderte verliehen hat. Wenn ihr doch das wahrhafte christliche Leben euer eigen nennt, so macht Ernst mit diesem Leben, führet alle die Neformen ein, welche das Bedürfniß der Zeit erfordert und gestaltet die Glaubenslehre um, anstatt euere Zeit damit zu vergeuden, alte, überlebte Formeln wieder aufzuwärmen, jenem betrogenen Huhn gleich, welches hartnäckig über den ihm untergelegten Kreide- oder Marmoreiern sigt, um sie auszubrüten, obwohl die 21 Tage der Brutzeit schon lange verflossen sind. So würde ich zu den Freunden von Rechts sprechen, wenn ich die geringste Aussicht hätte, gehört zu werden. Und es erhöht noch meinen Mißmuth, wenn ich sehe, daß so viele Herren, welche genug Einfluß besitzen, diese Dinge zu sagen, sich sorgfältig davor hüten aus Furcht, ihren theuerwerthen Einfluß zu verlieren.

Und was soll ich von den frommen Leuten, den Christen unter den Freisinnigen sagen, welche bei jeder Gelegenheit die Kritik verherrlichen, ohne doch davon genug zu besigen, um zu merken, daß sie nur jenen ge= schickten Leuten die Leiter halten, welche uns zum nackten Materialismus, zum Heidenthum mit ein wenig Poesie verbrämt führen wollen?

Was mich aber ganz besonders beleidigt, was mein Herz an seiner

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