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die so roh und scheußlich aussah, wie ich selten Jemand gesehen habe. Ihre Kleidung war zerlumpt, Gesicht und Hände mit Schwären bedeckt. An Stelle der Nase, die wohl durch Krebsschaden abgefressen war, sah man nur ein Loch. Sie machte Geständnisse aus ihrem frühern Leben, die man nicht wiedergeben kann, und schwur mit großer Begeisterung, treu zur Sache der Armee stehen zu wollen. Sie ist wie ein Brand aus dem Feuer gerettet," fuhr der Hauptmann fort, und wir sangen ein darauf bezügliches Lied, während dessen kleine gerettete Knaben Geld für die Zwecke der Armee sammelten. Jeßt durften wir eine sehr ruhige Rede vernehmen. Der Inhalt derselben war: „Das Himmelreich ist inwendig in uns; aber auch die Macht der Sünde ist inwendig in uns. Das gefährlichste Weltwesen besteht nicht in den äußern Dingen; es ist im eigenen Herzen zu suchen. Auf die inneren Feinde also gilt es zu achten, sonst betrügt man sich selbst. Das S (Zeichen der Heilsarmee) auf dem Arme nüßt nichts, wenn man nicht das Kreuz Jesu im Herzen hat." Diese ganz vortreffliche Rede machte aber leider wenig Eindruck, sie war nicht pikant genug. Etwas glücklicher war ein sehr solide aussehender Biedermann, der sich also vernehmen ließ: „Ich gehöre eigentlich zu der Armee John Wesley's. Meine Eltern waren fromm; sie hielten mich zu allem Guten an. Ich habe auch niemals etwas gethan, was man in der Welt schlecht nennt; aber ich war und blieb dennoch innerlich todt. Erst heute bin ich lebendig geworden; hier in dieser Versammlung der Heilsarmee. Wesley war groß; aber General Booth ist größer." Selbstverständlich war das Wasser auf die Mühle der Heilsarmee-Soldaten.

Es wurde nun ein Lied gesungen, dessen Melodie sehr aufregend, dessen Text aber ganz schön war. Die Refrains der einzelnen Strophen lauteten fast gleich, bezeichneten aber einen gewaltigen Fortschritt, nämlich: Wir können von aller Sünde frei werden (Strophe 1); wir müssen von aller Sünde frei werden (Str. 2); wir wollen von aller Sünde frei werden (Str. 3); wir sind von aller Sünde frei gemacht (Str. 4). Strophe 1 bezeugte also, daß es einen festen Grund der Erlösung von Sünden giebt, einen Felsen der Rettung, den Jedermann betreten kann; Strophe 2 sagt, daß wir von unserer Sünde frei werden müssen, wenn wir nicht ewig verloren sein wollen. In Strophe 3 spricht der Sänger den heiligen Entschluß aus, daß er will, nämlich die Gnade ergreifen, die Sünde verlassen. Str. 4 zeigt den einstmaligen Sünder bereits im Sonnenlichte göttlicher Heiligkeit. Der Ideengang ist eben so einfach als schön. Das Unschöne aber war das entsetzliche Getrampel, Händeklatschen, Brüllen und Tücherschwenken, was sich bei dem „Wir müssen“ und „Wir wollen" erhob. Ja, als man erst sang: „Wir sind von allen Sünden frei“ sprang der größte Theil der Versammlung auf und stellte sich wie verzückt. Der Hauptmann hielt auch eine Rede, welche zu meinem Entsetzen die Soldaten der Heilsarmee als solche bezeichnete, die thatsächlich von der Sünde frei seien oder doch bald ganz frei davon sein würden, die den Teufel überwunden und unter dem Fuße hätten. Ein stattlicher Herr, der vor fünf Minuten erst eingetreten war, erhob sich jetzt mit vieler Würde: „Ich ging durch OrfordStreet und hörte den Gesang; ich trat ein, ich lauschte, ich wurde überwunden, ich bin gerettet! Möge Jeder diese Nacht noch das Glück erfahren, welches mir zu Theil wurde." (Was ich hier erzähle, geschah in einer Nachtversammlung.) „O Geist, komm diese Nacht!“ ertönte jetzt die Stimme einer exaltirten Frau. Dann von verschiedenen Seiten: „Komm

diese Nacht, Geist! komm diese Nacht!" Eine einzelne Stimme: „Du kannst jede Barriere niederreißen! Du kannst es! Du mußt es!" Dieses letztere „Du mußt es!" wurde in einem durchdringenden, kreischenden Tone gerufen, der aber einen allgemeinen Widerhall fand: „Du mußt kommen diese Nacht! diese Nacht! Du mußt! Du mußt jest, jezt sogleich! Dann eine Frau in blauer Uniform, die „Capitän“ angeredet wurde, rief ganz schwärmerisch und weich: „Ich fühle es, er kommt,

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er kommt!" (Ich fühlte aber wieder nichts.) Pauken und Trompeten antworteten, und so gab es einen großen „Hallelujah-Lärm“. A.

Der deutsche Protestantentag in Neustadt a. d. Hardt

den 16., 17. und 18. Mai.

(Schluß.)

Freitags den 18. Mai führte uns ein Extrazug nach Worms. Dort festlicher Empfang durch eine Deputation und Musik. Hierauf Zug zum Lutherdenkmal. Dasselbe machte auf mich einen viel bedeutenderen Eindruck, als ich nach den Abbildungen erwartet hatte. Nach diesen zu schließen, glaubte ich, es fehle bei den verschiedenen und zum Theil ziemlich weit auseinander stehenden Figuren dem Ganzen der einheitliche Charakter, und die Gestalt Luther's, dem ja am Ende doch das Denkmal gewidmet sein soll und dessen Name es trägt, trete zu wenig dominirend hervor. Wie ganz anders erschien mir aber das Monument, als ich vor ihm stand! Allerdings verewigt dasselbe nicht nur Luther, sondern die ganze Reformationszeit und es ist, wie mit Recht gesagt wurde, gleichsam ein in Erz gegossenes Zeitalter, das vor uns steht. Aber die Reformation war ja auch nicht eines Mannes Werk allein und es ist daher wohl nichts als billig, daß neben Luther, dessen zugleich demüthiges Gottvertrauen und selbstbewußten Mannesmuth ausdrückende Gestalt immerhin mächtig über Alles emporragt, auch an die erinnert werde, welche seine befreiende Geistesthat vorbereiteten und ihm vollbringen halfen. Nachdem von den Tausenden, welche sich zur Feier versammelt hatten, das alte Lied: „Allein Gott in der Höh' sei Ehr'“ gesungen worden war, sprach Pastor Dr. Manchot aus Hamburg in ernsten, schönen Worten und mit weithin schallender Stimme das aus, was wohl zu dieser Stunde alle Herzen bewegte. Weit über seine Zeit hinaus, so sagte er, ragt Luthers Persönlichkeit, sein Wollen, seine Arbeit, seine Ziele und weisen auf eine bessere, edlere, größere Zukunft hin. Unendlich viel haben wir ihm zu verdanken und noch mehr haben wir von ihm zu lernen, von ihm, der offen und unerschrocken herausgesagt hat, was Gott in sein Herz gelegt, der Protest erhoben gegen jede Knechtung der Geister und Gewissen und in der tapfern Zuversicht seines Gottvertrauens die Bannbullen verbrannte, die so viele Flammen des Hasses und des Unheils entzündet hatten. Nicht mit Worten allein sollen wir ihm danken, sondern vor Allem aus dadurch, daß wir uns in die That seines Lebens versenken und das von ihm begonnene Werk fortsetzen, indem wir das aufnehmen, was zu vollenden als Ziel vor seiner Seele stand. Die Feier des nahenden vierhundertjährigen Geburtstages Luthers soll das deutsche Volk zur Besinnung auf seinen evangelischen Beruf, auf die wahre Gestalt der evangelischen Kirche führen und

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es an die große Aufgabe der christlichen Kirche erinnern, welche ihren Ausdruck in dem Worte Christi findet: „Ich bin dazu in die Welt gesandt, daß ich thue den Willen meines Vaters im Himmel." Und dieser Wille Gottes muß sich offenbaren in allem Volk, für alles Volk und durch alles Volk. Dazu bedarf es aber einer ernsten Einkehr des evangelischen Volkes in sich selbst und einer aus ihr hervorgehenden durchgreifenden Buße und Lebenserneuerung. An die in lautloser Stille angehörten Worte Manchot's schloß sich die Verlesung der von der Versammlung in Neustadt gefaßten Resolutionen, welche ein Glaubensbekenntniß und Programm des deutschen Protestantenvereins mit einem energischen Protest gegen alles unevangelische Wesen verbanden, durch Pfr. Höpffner an. Mit dem von der Musik begleiteten Gesang des Lutherliedes: „Eine feste Burg ist unser Gott", aus dem wunderbar erfrischend und rührend ein heller Kinderchor hervorklang, schloß die erhebende Feier. In festlich geschmücktem Saale versammelte man sich hierauf zum Bankett, an welchem auch viele Männer und Frauen aus Worms Theil nahmen. Unaufhörlich floß der Strom der Nede, mit einem herzlichen Gruß des Bürgermeisters von Worms beginnend. Auch der Schreiber dieser Zeilen glaubte nochmals das Wort ergreifen zu sollen, um daran zu erinnern, daß nicht nur am 10. November dieses Jahres der 400jährige Geburtstag Luthers, sondern am 1. Januar des nächsten auch derjenige Zwingli's gefeiert werde. Beide Männer, so verschieden sie auch nach Naturanlage und Lebensverhältnissen waren, indem der Eine Alles aus der Tiefe seines gottinnigen Gemüthes schöpfte und von mönchischer Knechtschaft und Beschränktheit erst durch viel Gewissensnoth und Geisteskampf zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes sich hindurchrang, der Andere, in der freien Luft der heimatlichen Berge großgewachsen, in seinem Denken und Wesen frei, klar und scharf war, wie diese, eine Gestalt, gleichsam herausgeschnitten aus dem Granit der Alpen seien doch eins gewesen in der glühenden Liebe für evangelische Freiheit, im rastlosen Kampfe für dieselbe und im männlichen, siegesgewissen Gottvertrauen, mit welchem sie emporschauten zu den Bergen, von wannen uns die Hülfe kommt. Sie seien gewissermaßen Charaktertypen der beiden Völker, Luther des idealen Deutschthums, Zwingli der mehr verständigen, schlichten Schweizerart. Die höhere Einheit, welche die beiden Reformatoren verbunden, möge auch die Evangelischen Deutschlands und der Schweiz verbunden halten! Freundliche Worte des Grußes und Dankes richtete Dr. Spiegel, Pastor in Osnabrück, an die fremden Gäste, die Engländer, Holländer und Schweizer. Noch glaube ich zweier origineller Toaste erwähnen zu sollen, welche in die Versammlung viel Leben und Heiterkeit brachten. Den einen hielt ein Mennonitenprediger Dr. Cramer von Ensfelde in Holland. Dieser Mann, mit dem Wirth und ich uns vorher längere Zeit trefflich unterhalten hatten und der uns durch seine freisinnigen Anschauungen mitunter in eigentliches Erstaunen versetzte, sprach, wenn auch in etwas mangelhaftem Deutsch, trefflich, voll Feuer und Wiz. Er erklärte u. a., daß die Holländer sich viel mehr zu Zwingli hingezogen fühlen, als zu Luther, welcher ihnen zu mönchisch sei. Zwingli sei ihr Mann - verständig, nüchtern, ganz holländisch". Die Deutschen bat er, nicht zu sehr sich als ein großes Volk zu fühlen, welches sich selbst genüge, sondern mehr geistige Gemeinschaft mit andern Nationen zu pflegen, durch welche beide Theile nur gewinnen können u. s. w. Der andere Toast wurde von einem reichen Bauer der Umgebung gehalten.

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Er schloß seine das Wirken des Protestantenvereins für geistige Freiheit preisende Rede mit den merkwürdigen, von schallendem Gelächter begleiteten Worten: „Wir wollen nicht ruhen, bis der leyte Europäer aus dem Weltall verschwunden ist." Als ich ihn frug, was er eigentlich damit gemeint, antwortete er mir, er habe ursprünglich seinen Toast mit den Worten schließen wollen: Wir dürfen nicht ruhen, bis der letzte „Römling" aus Europa verschwunden ist, aber es sei ihm von maßgebender Seite, der er diese Absicht mitgetheilt, verdeutet worden, das gehe denn doch nicht an.“ In Worms sahen wir auch den in den 40ger Jahren so viel genannten Johannes Ronge, welcher, als die Wallfahrten zum angeblich gefundenen. Kleide Jesu, dem heiligen Rock" zu Trier, aufkamen, in einem den 1. Oktober 1844 an Bischof Arnoldi gerichteten, zornflammenden Schreiben dem öffentlichen Unwillen über diesen neuen Gößendienst einen schlagenden, volksthümlichen Ausdruck gab und dann später die religiöse Gemeinschaft der Deutschkatholiken" stiftete. Ronge wollte beim Bankett sprechen, allein man winkte ihm ab und er verließ frühe den Saal. Es mag dies flug und um des deutschen Protestantenvereins willen, der ja seine Sache mit derjenigen Ronges nicht vermengen lassen kann, zweckmäßig, ja nothwendig gewesen sein aber doch dauerte mich der nun 70jährige Mann, welcher nach seinen frühern Triumphzügen durch Deutschland nun so verschollen ist und auf die Seite geschoben wird. Ich habe von jeher mit „gefallenen Größen“ und Menschen, die aus frühern guten Verhältnissen in schlimmere kamen, besonderes Mitleiden gehabt.

Samstag den 18. Mai Morgens machten unsere lieben Gastgeber, die uns nicht genug Freundlichkeiten erweisen zu können glaubten, mit uns noch eine Fahrt durch die Pfalz über Deidesheim und Forst nach Türkheim, wo wir den prächtigen Kurgarten uns besahen. Ueberall trat uns großer Wohlstand entgegen. In einzelnen Dörfern sahen wir reiche und geschmackvolle Villen, von Leuten bewohnt, die sich durch ihren Weinbau kolossale Vermögen erworben haben. Mittags reisten wir von Neustadt ab, den neugewonnenen Freunden noch dankbar die Worte zurufend, die wir als den Wahlspruch der Pfalz unserer Berichterstattung vorangesezt: Fröhlich Pfalz -Gott erhalt's! Es waren schöne Tage, die wir dort unter edlen, lieben Menschen verlebten und sie waren für mich noch dadurch besonders interessant, weil ich zum ersten Mal das Land betrat und kennen lernte, welches meinen Vorfahren, als sie 1572 während der Greuel der Bartholomäusnacht oder Bluthochzeit als „Hugenotten" aus Paris entflohen waren, ein gastliches Asyl darbot, wo sie sich schließlich in Heidelberg niederließen, um dann im Anfang des vorigen Jahrhunderts in die Schweiz einzuwandern.

W. B.

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Sechster Jahrgang.

No 25.

Samstag, 23. Juni 1883.

Schweizerisches Proteftantenblatt

Herausgeber:

Pfr. A. Altherr und E. Linder in Basel, Pfr. Bion in Zürich.

Wir sollen nur nicht in Sinn nehmen, daß der heilige Geist gebunden
sei an Jerusalem, Rom, Wittenberg oder Basel, an deine oder eine andere
Person. In Christo allein ist die Fülle der Gnade und Wahrheit.
Decolampad an Luther.

Erscheint jeden Samstag. Man abonnirt auf jedem Postamt der Schweiz und des Auslandes. Preis halbjährlich franko zugesandt 2 Fr. Wer das Blatt in Basel gratis erhalten will, kann dasselbe in der Buchdruckerei J. Frehner, Steinenvorst. 12, abholen.

Prüfet Alles und das Gute behaltet.

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In England sieht der Fremde viel Geschmackloses und Abstoßendes. Die Bauten, selbst die prachtvollsten, imponiren mehr durch ihre Größe als Schönheit; Häuser, die im Innersten den vollendetsten Komfort aufweisen, zeigen in ihrem äußern bloß, daß viele Ziegel dafür verwendet worden sind; der Farbensinn der Frauenwelt, wenigstens derjenigen, die sich auf der Straße blicken läßt, fordert oft zum Spott heraus; über eine musizierende Schaar Soldaten fällt der französische Akademiker Taine das wegwerfende Urtheil, sie seien ihm vorgekommen wie verkleidete Affen, die bezahlt werden, da mit sie Lärm machen;" der kolossale Kristallpalast, unter dessen Glasdach sich ein Concertsaal mit Orgel, ein Theater, Höfe voll ägyptischer, griechischer, römischer, mittelalterlicher und moderner Statuen, gymnastische Vorrichtungen, Restaurants, Guckkasten, Camera obscura, Buden mit Verkaufsgegenständen jeder Art u. s. w., etwas für jeden Geschmack und jedes Bedürfniß zusammengehäuft finden, machte auf mich den Eindruck, den kritische Naturen von dem kaiserlichen Rom hatten, als es zur Zeit seines Verfalls den wilden Völkerhaufen mit Brod und Spielen zu zähmen versnchte; selbst die vielgepriesene Westminster-Abtey mit ihren Denkmälern aller größten Helden, Künstler und Staatsmänner Englands kam mir vor wie ein prachtvolles Zimmer, in welchem die brillantesten Hausgeräthe zur Schau ausgestellt sind, ohne wirklich dahin zu gehören England, oder wenigstens London, ist sicher nicht das Land des guten Geschmacks, in seinem fast immerwährenden schmutzig-gelblichen Nebel ist mehr das Machtvolle und Groteske als das Liebliche und Hübsche daheim. Aber ich gehöre zu den Reisenden, welche mit einer fremden Welt nach dem paulinischen Spruch

verfahren: Prüfet Alles und das Gute behaltet! Ich suche den Segen des

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