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schon tauchte in ihm der Entschluß auf, Einsiedler zu werden, allein sein Vater zwang ihn zum Kriegsdienst. Hier lebt er, ohne noch getauft zu sein, bereits als ein Christ. Der hervorragendste Zug seines Christenthums war die praktische Bethätigung der Nächstenliebe. Er begnügte sich mit nur einem Sklaven zu seiner Bedienung, und diesen bediente er oft selbst, indem er ihm die Stiefel auszog und reinigte, auch bei Tisch aufwartete. Den Soldatensünden feind, keusch, mäßig, demüthig und geduldig, gütig und Liebreich gegen seine Kameraden war er allgemein geehrt und geliebt. Mit dem Nothwendigsten zufrieden, verwandte er seinen übrigen Sold zur Unterstützung der Armen und zur Bekleidung der Nakten. Den Kranken stand er persönlich bei. Damals geschah es, daß er mitten im strengsten Winter bei außergewöhnlicher Kälte durchs Thor von Amiens marschirend einem nackten Armen begegnete. Alle ziehen an dem Bittenden vorüber. Da muß ich helfen, denkt Martinus. Aber er hat nichts als seine Waffen und seinen Soldatenmantel; seine übrige Habe war bereits verschenkt. So zieht er schnell sein Schwert, zerschneidet den Mantel, schenkt die eine Hälfte dem Armen und wickelt sich nothdürftig in die andere. Darüber spotteten nun Manche, andere jedoch, welche hätten besser helfen können, waren beschämt. Ihm selbst erschien aber in der darauffolgenden Nacht Christus, angethan mit dem halben Mantel, und dankte ihm dafür, indem er laut zu den ihn begleitenden Engeln sprach: Martinus der Katechumene hat mich gekleidet.

Diese Erfahrung gab ihm den Muth, in seinem 22. Jahre sich zur Taufe zu melden. Nachdem er zur Fahne Christi geschworen, ließ er sich nur durch die Bitten seines Hauptmanns und Zeltgenossen bewegen, noch zwei Jahre bei des Kaisers Fahnen zu bleiben. Dann bat er um seinen Abschied und wandte sich dann nach Poitiers zu dem heiligen Bischof Hilarius.

Von da an ist Martinus nur noch der Kirchenmann, der demüthige Einsiedler, der Bekämpfer der arianischen Frrlehre, der hochberühmte und vielgefeierte Wunderthäter, der Stifter unzähliger Klöster, der Bekehrer Frankreichs. Der Ruf seiner Wunderthaten und seiner Wirksamkeit für die Ausbreitung des Christenthums im damals noch römischen Gallien war so groß, daß das Unglaublichste geglaubt wurde und er auch in Deutschland einen Namen erlangte wie kein anderer Heiliger". Aber durch alle diese Legenden hindurch zieht sich der Charakter der Nächstenliebe, und als einst Irrlehrer auf Anrathen einer Bischofsversammlung zum Tode verurtheilt wurden, brach Martinus, so streng er sonst jede Abweichung von der kirchlichen Lehre verurtheilte, den Verkehr mit diesen blutbefleckten Bischöfen gänzlich ab.

Seine Wunder sind zahllos. Wir wollen dieselben hier nicht aufzählen; nur eines sei erwähnt, eine Nachtaufe. Ein junger Heide, der des Martinus Katechismusunterricht besuchte, wurde in Abwesenheit seines Lehrers vom Fieber hinweggerafft, ehe er die Taufe erhalten. Am dritten Tage nach seinem Tode kehrte Martinus zurück und erschrack über den Vorfall, weniger darüber, daß der Jüngling gestorben, als darüber, daß er ungetauft gestorben war. Er läßt daher alle Anwesenden aus der Zelle gehen, verriegelte die Thüre und wirft sich, wie einst Elias und Elisa, über den Leichnam hin und betet so inbrünstig, daß der Todte nach zwei Stunden allgemach die Glieder regt und die Augen aufschlägt. Martinus bricht darob in lauten Dank aus, die Draußenstehenden dringen herein und sehen das Wunder. Sofort wurde der vom Tode Erweckte getauft und noch Jahre lang lebte er als Erstlingszeuge der Gotteskraft, die in Martinus war.

Solche und ähnliche Legenden wurden in Menge von dem berühmten Heiligen erzählt, und die Leute jener Zeit glaubten Alles, oder glaubten wenigstens es zu glauben. Die gänzliche Unkenntniß jener Zeit über die wirkliche Welt und ihre Geseze verlangte solche Wunder, und sie glauben und erzählen war nichts anderes als ein Zeichen der Verehrung gegen bedeutende christliche Persönlichkeiten. Und bedeutend war Martinus gewiß, auch ohne die Legenden. Wurde er ja doch im Jahr 371 auf allgemeinen Wunsch und gegen seinen Willen zum Bischof von Tours gewählt, in welcher Stellung er, obschon stetsfort Einsiedler bleibend, seine hervorragenden Tugenden, die Einfachheit des Lebens, die Wahrhaftigkeit gegenüber Hoch und Niedrig, und die unbegrenzte Nächstenliebe mit strenger Konsequenz festhielt und übte. Er starb am 8. November 400 und wurde unter ungeheurer Theilnahme beigejezt am 11. November, welcher Tag auch im Kalender seinen Namen trägt.

Und wie hat ihn nun der unbekannte Künstler einer alten Zeit an unserm Münster dargestellt? Als einen Heiligen im Sinn des mittelalterlichen Heiligenglaubens? Als den Mann der Legende, wie wir sie so vielfach noch in katholischen Landen abgebildet finden, mit dem schon vollständig fertigen Mönchsgesicht und dem Kirchenornat, ein Kreuz in der Hand, und die Spuren des Fastens im Angesicht? Keineswegs, sondern als den Mann der Barmherzigkeit, einfach in seiner Erscheinung, dem Armen ein Stück von seinem Mantel schneidend, und ohne irgend welchen Zug eines Kirchenheiligen. Uusre wackern Altvordern waren, wie es scheint, noch unverdorben genug, die vernünftige Frömmigkeit, die sich vor Allem in der Nächstenliebe äußert, höher zu stellen als die schablonenmäßige Kirchenheiligkeit der Mönche und Pfaffen. Ihnen galt der hl. Martin als Typus der unge

schminkten Samariterliebe, und die Werke der Barmherzigkeit, die Christus in Math. 25 nennt, und wie sie die Galluspførte so naiv darstellt, als Wesen und Kennzeichen wahren Christenthums. L.

Der populärste Prediger Londons.

Die englische Kirche ist protestantisch, denn König Heinrich VIII., welcher zuerst Luther in einer Schrift augriff und dafür vom Papst in einer Bulle belobt wurde, die Jedermann im British Museum nachsehen kann, erklärte sich bald darauf zum Oberhaupt der englischen Kirche und verfügte über ihre Güter, weil ihn der Papst von seinem ersten Weibe nicht scheiden wollte. In keinem andern Christenland ging die Reformation aus so unlautern Quellen hervor und diesen fatalen Ursprung sieht man der Church of England heute noch an: ihre hierarchische Verfassung und ihr gottesdienstliches Ritual sind wesentlich katholisch geblieben. In der Westminster Abtey und in der Kathedrale zu Orford wohnte ich Gottesdiensten bei, die durch den Ornat ihrer Geistlichen, durch die von diesen gesungenen und von der Gemeinde singend beantworteten Litaneien auf einen reformirten Schweizer einen höchst befremdenden Eindruck machen. Nur die in die liturgische Andacht eingestreuten obligaten Bibellektionen sind sichtbare Zeichen des protestantischen Geistes. Diesen Geist bekämpft aber eine in der Kirche mächtige Richtung, welche eifrig für Einführung von brennenden Kerzen, Ohrenbeichte, Marienverehrung u. dgl. agitirt. Es ist dies die hochkirchliche Richtung, nicht etwa eine Kirche für sich, sondern der römische Sauerteig in der englischen Kirche, und wer sehen will, wie die Sache sich in. der Praxis ausnimmt, muß z. B. nach St. Alban gehen in London. In einem Punkt überbietet sogar die protestantische Kirche von England die römische, nämlich durch den schreienden Gegensatz, welcher zwischen der Stellung eines englischen Kirchenfürsten und einem armen Vikar besteht. Der jüngst inthronisirte Erzbischof von Canterbury hat eine jährliche Besoldung von 375,000 Fr. und zu seinem Sommeraufenthalt bei Croyden einen prachtvollen Park, dessen Rhododendronbüsche ich jetzt blühen sehen möchte und in dessen Pallast der Würdenträger gewiß der köstlichsten Ruhe genießt, während es in London selbst Vikare genug gibt, die mit 2000 Fr. jährlich eine zahlreiche Familie erhalten. George Elliot beschreibt in ihrem Buch klerical Scenes, wie die Frau eines solchen Vikars Nachts im Bett sizend einen Korb voll zerrissener Kinderstrümpfe flickt, ebenso fleißig wie rührend liebevoll besorgt, daß seine neben ihr schlafende Wohlehrwürden nicht aus ihrem sauer verdienten Schlafe aufwachen.

Gegen diese englische Staatskirche stehen seit Langem die freien kirchlichen Gemeinschaften, so weit sie auch unter sich in ihrem Glauben _abweichen mögen, einmüthig im Kampf, wie Spaßen, die einer fetten Ente ihr Mittagsmahl streitig machen. Alle nicht vom Staat, sondern durch freiwillige Beiträge erhaltenen Kirchen, Methodisten, Quäcker, Baptisten, Unitarier und Katholiken, arbeiten in der Presse und durch Vorträge, ja

bis ins Parlament hinein daran, daß die englische Kirche, welche kaum mehr die Hälfte aller Gläubigen umfaßt, aus ihrer bevorrechtigten Stellung herausgetrieben und gezwungen werde, so gut wie alle andern Kirchen und Sekten sich selbst zu erhalten; es ist der gleiche Fall, wie wenn in Basel Ultramontane, Methodisten, Jrwingianer, Freidenker u. dgl. sich zusammenthäten zur Entfernung des Kirchenbüdgets aus unserm Staatshaushalt. In England muß diese der Staatskirche feindliche Richtung über kurz oder lang zu ihrem Ziel kommen, weil dort in einem außerordentlich viel höhern Maß als bei uns die freien kirchlichen Gemeinschaften die Staatskirche an Lebendigkeit und Mächtigkeit des religiösen Lebens übertreffen. Von der kalten Pracht der englischen Staatskirche hat Unsereiner in London sehr bald genug, hingegen das neben ihr her durch die freien Gemeinschaften fluthende Leben, das ist gewaltig und reich wie das Meer in vier Wochen ist es nicht möglich, mehr als ein paar Wellen davon zu sehen. Mich interessirte, nach London kommend, ein einziger Prediger einer freien Gemeinde unendlich viel mehr als das ganze Prachtwerk der englischen Staatskirche, und dieser eine Mann überbietet an Größe und Wirksamkeit jeden Pfarrer des Kontinents so sehr wie das englische Pferd an Kraft und Schnelligkeit seine Genossen auf dem Festland.

C. H. Spurgeon ist erst 48 Jahre alt. Seine Gestalt und sein Kopf erinnerten mich in frappanter Weise an einen lieben Reformer am Zürichsee. In Haltung und Kleidung hat er absolut nichts von der vornehmen Feierlichkeit des englischen Reverend; ihn schmückt weder weiße Cravatte noch der langweilige Cylinder, den sonst in London jeder „Gentleman“ trägt; er bewegt sich so wenig steif wie unser Heinrich Lang sel. und auf keinem Kopf sah ich einen so ärmlichen Filz in so nachlässiger Haltung wie auf dem seinen. Dieser Mann ist in dem religiösen Leben der Viermillionenstadt so gut eine Macht wie der wackere Gladstone auf dem politischen. Die riesige Geistesarbeit, welche er thut, hat seinen Körper, so stark er auch scheint, hart hergenommen, die innere Gicht ist sein Pfahl im Fleisch, er mußte den ganzen Frühling an der Riviera zubringen und nach den paar Reden, die ich das Glück hatte zu hören, warf es ihn wieder auf's Krankenbett, und Englands Premierminister schickte auf die Kunde davon sofort einen Boten, um nach des Pastors Befinden zu fragen. Ich hörte über diesen merkwürdigen Mann keine andern als bewundernde Urtheile. Auch die vornehme unitarische Dame, welche seine Predigten allzu massiv und seine Dogmatik allzu kraß findet, nur gut genug für das niederste Volf, mußte doch gleich hinzufügen: „Aber unter diesen Leuten thut er viel Gutes." Und wie viel! Durch den Erlös aus den Kirchensizen und Kirchenalmosen und Woche für Woche gedruckten, massenhaft verkauften Predigten unterhält er nicht bloß sich nebst dem Generalstab von Bedienten, Lehrern, Vorsingern und Vorbetern, sondern auch eine Menge Sonntagsschulen, Waisenhäuser, Spitäler. Ueber dem Gotteskaften steht immer zu lesen, wie viel Liebesgaben in einer Woche eingelegt wurden und von der Woche zwischen dem 1. und 8. April las ich 32 800 Fr. verzeichnet. Wie kleine oder große Summen er für irgend einen besondern Zweck nöthig hat, er sagt seiner Gemeinde, wie viel Tausend und in wie

viel Tagen er sie brauche und hat sie noch immer bekommen! Ihm wurde. 1861 das berühmte Tabernakel erbaut, Kirche oder Vereinshaus, wie man es nennen mag; Mauer und Gitter umschließen den großen Bau mit griechischer Säulenhalle und sehr weiten Treppen; er kostete 800,000 Fr., die, als der Bau fertig stand, durch freiwillige Gaben auch schon gedeckt waren. Neben Schulzimmern, Betsälen, Konferenz- und Theestuben enthält das Tabernakel den berühmten Predigtsaal mit Platz für 5000 Personen, ohne Bild und Spruch an den Wänden, ohne Altar oder Orgel, aber mit zwei Bühnen, drei Gallerien und so praktisch eingerichtet, daß der Prediger auf der obern Bühne von jedem der 5000 Pläße aus ebenso bequem gesehen wie gut gehört wird. Hier predigt Spurgeon jeden Sonntag, wenn er gefund ist, um Vormittags 11 und Abends 7 Uhr. Die Woche über hat er Audienzen, man kann ausrechnen wie viel, da seine Gemeinde 5500 eingeschriebene Mitglieder zählt; hält theologische Vorlesungen an seiner Predigerschule, in der bis jetzt 486 Männer zu Evangelisten und Missionaren ausgebildet worden sind, überdies Konferenzen und Betstunden Abend für Abend. Wann und wie dieser Mann seine Predigten studirt, begreife wer will; ich glaube bei seiner religiösen Anlage thut er es mehr durch Gebet als durch reflektirende Arbeit. Eine Stunde vor einer seiner großen Neden fand ich den Generalstab seiner getreusten Männer und Frauen, ca. hundert, um ihn im Betsaal vereinigt; zwischen den Gesängen betete er, und ein Bruder nach dem andern, über ein halbes Dutzend, beteten auf seinen Zuruf hin. Sie beteten für Alles und Jedes zwischen Himmel und Erde, besonders für die Gemeinde, für jede ihrer Anstalten und Seelen, und ganz eigenthümlich begeistert beteten sie for our pastor". Bei solchen Fürbitten für ihn rief er mit freudestrahlenden Augen einmal übers andere laut: Amen! Amen! Amen! sprang auf, drückte den alten Filz auf den Kopf und stürmte zum Saal hinaus wie ein feuriges Roß zum Sieg in die Schlacht, und hinauf in den großen Saal, wo die Tausende schon dicht gedrängt auf ihn warteten und immer noch vom Elephant and Castle-Play hereindrängten. Es war eine, wie mir schien, ebenso respektable Zuhörerschaft, wie sie nur je an Festtagen im Basler Münster sich zusammenfindet, wenig ausgeprägte Chrischonagesichter und weit weniger Blousen als mir diejenigen vorgemalt hatten, welche sagen, Spurgeon predige bloß „for the low people". Auf seiner in den Saal hinaus geschweiften, großen und mit einem Geländer versehenen Tribüne hat er Sopha, Stuhl und Tisch, mit Bibel, Gesangbuch und Lampe. Das große, schwarze, goldgefaßte Buch, genannt Liturgie, ist hier ein unbekanntes Ding, ebenso der Ornat, denn der Prediger hat Psalmen und Lobgefänge zu Tausenden in seiner Seele. Die Gemeinde singt aus ihrem eigenen großen Gesangbuch, das über tausend Texte aus allen katholischen und protestantischen Quellen, aber keine Melodien enthält. Der Gesang ist lebhaft, mehrstimmig, warm. Nach dem ersten Vers steht Spurgeon auf und ruft: aber, bitte, schneller, schneller! Folgt Gebet. Dann wieder Gesang. Hierauf eine lange Bibellektion mit Erklärungen, abermals darauf bezügliches Gebet, noch einmal Gesang, und wenn Spurgeon noch nicht bereit ist, wieder Gesang und Gebet. Schließlich, endlich die Predigt. Es ist wahr, eine Predigt für „das niedere Volk“, sofern äußerste

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