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DER KAMPF UM DAS WEISSE HAUS

IN WASHINGTON.

MCKINLEY ODER BRYAN?

ST. LOUIS, 8. Oktober 1896.

NÄCHST einem verlorenen Kriege kommt die Ignoranz in volkswirtschaftlichen Dingen einer modernen Nation am Teuersten zu stehen; und es scheint, als ob von dem Rechte zu irren gerade auf volkswirtschaftlichem Gebiete nie fleissiger Gebrauch gemacht worden wäre als im letzten Vierteljahrhundert. Es ist das übrigens kaum zu verwundern. Je complicirter die Weltwirtschaft wird, je mehr durch tausendfältige Erfindungen und stetige Vervollkommnungen des Arbeitsprozesses die Produktivität Produktivität der menschlichen Arbeitskraft gesteigert wird, um so schwieriger ist es, die Fülle der immer neuen wirtschaftlichen Erscheinungen geistig zu bemeistern und unter einfache logische Gesichtspunkte zu bringen. Die Welt ist in der geistigen Durchdringung hinter der tatsächlichen Schaffung neuer wirtschaftlichen Lebensbedingungen zurück geblieben. Die Verkehrsmittelrevolution unseres Jahrhunderts, welche die herkömmlichen Vorstellungen von dem, was zeitlich und räumlich überwunden werden kann, so gründlich veränderte, und welche alle früheren Bedingungen wirtschaftlichen Weltbewerbs verschob, hat die Geister verwirrt und damit gerade den unklarsten Köpfen Gelegenheit geboten, das Unsinnigste als lautere Wahrheit auszubieten. Dieser Zustand der Dinge wäre weniger gefährlich geworden, wenn er nicht mit einer starken Entwicklung der Demokratie in allen civilisirten Ländern zusammengetroffen wäre. Schwierige volkswirtschaftliche Probleme werden immer leichter von

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einigen Auserwählten, als von der grossen Masse erkannt werden. Der Masse diese Probleme verständlich zu machen, erfordert agitatorisches Geschick, Ausdauer und Zeit. Inzwischen aber läuft das Volk gar leicht dem nächsten besten Quacksalber nach, der ihm verspricht, es von allen seinen wirtschaftlichen Leiden mittelst einer gesetzgeberischen Patentmedizin "unfehlbar" zu curiren.

So erklärt es sich denn auch leicht, dass gerade in den letzten zwei Dezennien neben der riesigen Entwicklung der Weltwirtschaft und der Ausbreitung einer demokratischen Herrschaft der öffentlichen Meinung die demagogische Ausbeutung der volkswirtschaftlichen Unbildung so gefährliche Dimensionen angenommen hat. Es ist kein blosser Zufall, dass in den Vereinigten Staaten, dem Lande des grössten wirtschaftlichen Aufschwungs und der entwickeltesten Demokratie, diese Erscheinung ganz besonders drastisch zu Tage tritt.

Bei den Amerikanern kommt noch ferner hinzu, dass sie auch im Privatleben Freunde von Patentmedizinen sind. Sie wünschen rasche sichtbare Wirkungen zu erleben. Endlich sind die Amerikaner geborene Verschwender,--Verschwender von allem im Konsum. Man braucht nur die rasende Vergeudung von Speisen in amerikanischen Hotels zu beobachten. Ein Konsum-Verschwender legt aber begreiflicherweise viel weniger Wert darauf, wie viel das kostet, was er verbraucht, als darauf, dass er Mittel erlangt, seinen verschwenderischen Konsum zu befriedigen. Eben deshalb verfängt

gerade in den Vereinigten Staaten jeder Appell so leicht, der darauf gerichtet ist, im Wege der Gesetzgebung aus Heckerling Gold zu machen, während diejenigen einen schweren Stand haben, welche die Lehre predigen, dass ein billigerer Konsum für die wirtschaftliche Lage des Einzelnen gerade so bedeutsam ist, wie ein grösserer Erwerb.

Nirgends in der Welt ist in Folge dessen auch die absurde Vorstellung von dem Segen hoher Preise so eingewurzelt, wie gerade in dieser grosser Republik. Die ganze Silberbewegung beruht auf dieser Vorstellung. In der CampagneLitteratur ist das durch ein kleines Flugblatt sehr wirksam zum Ausdruck gebracht, nämlich durch eine Annonce, in der die Firma "Stewart, Bland, Altgeld, Teller & Co., Dealers in

Cheap Money Notions," ihr Waarenhaus unter der Ueberschrift anpreist The Dearest Store in Town. Das wird dann im Einzelnen weiter geführt, z. B.: "Bester Zucker, in andern Läden 6 Cents das Pfund, bei uns 12 Cents"; "Hundert KnabenAnzüge liefern wir zu 12 Dollars den Anzug, früher 5,65 Dollars."

"Wir garantiren dass die bei uns gekauften Artikel teurer sind, als dieselbe Qualität irgendwo sonst gekauft werden kann."

Eine solche Anzeige erscheint über Gebühr grotesk, und doch dreht sich recht eigentlich der ganze Wahlkampf um die Frage: "Wie bringen wir es fertig, die Preise aller Lebensbedürfnisse zu verdoppeln?"

Das Evangelium von dem Segen hoher Preise wird dabei keineswegs bloss von den Silberaposteln gepredigt. McKinley, der Fahnerträger der republikanischen Partei, lässt keine Gelegenheit vorübergehen, um dieselbe Heilslehre zu verkündigen. Daber scheint er die Ironie gar nicht zu spüren, die darin liegt, dass er bei Bryans Bekämpfung dasselbe Hauptargument benutzt, das Bryan bei den Angriffen auf die Republikaner verwendet. Ich selbst hörte in Canton zwei seiner "front porch campaign classics," die an Huldigungs-Delegationen gerichtet waren und in denen, beinahe in einem Atemzuge, die künstliche Entwertung des Geldes verdammt und die künstliche Steigerung der Waarenpreise gepriesen wurde. Nun ist es offenbar für den Einzelnen, z. B. für den Arbeiter, der seine Arbeitskraft zu Markte trägt, genau dasselbe, ob das Geld, in dem er seinen Lohn ausgezahlt erhält, so stark durch eine Free Coinage-Akte entwertet wird, dass er gegen früher nur noch die Hälfte damit kaufen kann, oder ob die Waarenpreise im Wege protectionistischer Gesetzgebung so stark in die Höhe getrieben werden, dass er mit vollwertigem Gelde von jenen Waaren nur noch die Hälfte gegen früher erwerben kann. Ob man in den Grog mehr Wasser oder weniger Rum tut, das bleibt sich in der Wirkung gleich.

II.

Aber nicht genug, dass das Ziel einer künstlishen Verteue rung der Lebensbebürfnisse von beiden Rivalen als erstrebenswert bezeichnet wird, die weitere Argumentation, wie diese

offenbare Schädigung des Konsumenten und speziell des Lohnarbeiters wieder wett gemacht werden soll, sieht sich in den Reden der beiden beiden Präsidentschaftskandidaten überraschend ähnlich. Bryan, wie McKinley, können nicht leugnen, dass die Wirkung ihrer gesetzgeberischen Medizin an und für sich die wirtschaftliche Lage der Arbeiter verschlechtert; aber - so folgern beide mit der Logik der Köchin, die dem Aal die Haut abzog, weiter-es its nur ein kurzer Uebergang, und was Ihr Arbeiter auf der einen Seite verliert, erlangt Ihr doppelt und dreifach zurück durch den allgemeinen Aufschwung, den die Produktion nehmen muss, wenn ihr mein Heilmittel anwendet !

Beide suchen den Arbeiter zu überreden, den Sperling in der Hand fahren zu lassen und der Taube auf dem Dache nachzujagen. Ist der amerikanische Lohnarbeiter bereits so weit, um wie seine Kameraden in Deutschland, zu begreifen, dass sein Interesse weder in Schutzzöllen noch in einer künstlichen Geldverschlechterung liegt? Hat er es begriffen, so hat er nur die Wahl zwischen zwei Uebeln. Aber er sollte keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, dass die Geldentwertung für ihn das bei weitem grössere Uebel ist. Es ist ein grosser Unterschied, ob man aus dem Parterre-Fenster oder vom Dach eines dreistöckigen Hauses auf die Strasse springt. Im ersteren Falle verrenkt man sich vielleicht den Fuss, im zweiten bricht man sicher die Beine. Die freie Silberausprägung bedeutet eine sofortige Geldentwertung und damit eine sofortige entsprechende Preissteigerung aller Lebensbedürfnisse, neben einer demoralisirenden SchuldenRepudiation und einer alles ruinirenden Panik im Uebergangsstadium. Die künstlichen Preissteigerungen des Protectionismus dagegen erfassen in der Regel immer nur einzelne Artikel ; es kommen vielfach divergirende Interessen ins Spiel, die ein gewisses Maass im Verabreichen von Schutzzöllen bedingen ; diese Schutzzölle lassen sich unter Umständen auch wieder ermässigen und beseitigen; und endlich im vorliegenden. Falle ist es noch sehr ungewiss, ob die republikanische Partei nach diesem schweren Wahlkampfe und angesichts der Erfahrungen des Jahres 1890, so thöricht sein wird, durch protectionistischen Uebereifer ihr Geschick heraufzubeschwören. NO. XI. (VOL. IV.)

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So selbstverständlich gerade vom Standpunkte der Interessen der Lohnarbeiter aus gesehen darnach die Entscheidung sein sollte, so ist es doch eine unleugbare Tatsache, dass die amerikanischen Lohnarbeiter in ihrer überwältigenden Mehrheit der Sache Bryans günstig gesinnt waren, als die Wahlcampagne begann, und dass sie auch noch gegenwärtig, wenn auch in verminderter Mehrheit, grösstenteils zu ihm halten. Eine Ausnahme machten von vornherein nur die ausgesprochenen Kollectivisten, die genau wie die deutsche Sozialdemokratie-jedem Bimetallismus feindlich gegenübertraten, natürlich nicht aus Vorliebe für goldbugs und die Millionäre von Wallstreet, sondern in der klaren Erkenntnis, dass jede Geldentwertung den Arbeiter in erster Linie schädigen muss. Bekanntlich trat aus demselben Grunde der bekannte Anarchist Most, dem es an einer gewissen volkswirtschaftlichen Logik nie gefehlt hat, sofort gegen die "free coinage Quacksalber" auf. Diese Parteinahme Mosts gegen Bryan gab der Freisilberpartei, die unter amerikanischer Uebertreibung mit Vorliebe die Partei der Anarchisten genannt wurde, einen erwünschten Anlass, ihre Ordnungsliebe herauszustreichen ; und als dann gar noch durch den Brief des Fürsten Bismarck an den Gouverneur von Texas die Anhänger dès Silberapostels Bryan den Segen des grossen deutschen Staatsmanns und Sozialistengegners erlangt zu haben glaubten, war die Freude über dies weitere Zeugnis, dass die Silberleute keine Anarchisten seien, besonders lebhaft. Man erkennt auch aus diesem originellen Zwischenfall, dessen praktische Bedeutung übrigens nicht gar gross geworden ist, welche Begriffsverwirrung durch die free coinage-Bewegung eingerissen ist. Nur so ist es auch zu erklären, dass selbst die organisirten Gewerkschaften, die Trades Unions, fast durchweg Bryan begünstigen. Es gibt in den Vereinigten Staaten ungefähr fünfzig derartiger organisirten Arbeiterverbände, die mit wenigen Ausnahmen sämtlich eigene Pressorgane besitzen. Das Verzeichnis dieser speziellen Arbeiterpresse umfasst 107 Organe. Eine im Monat September vorgenommene Durchsicht dieser Arbeiterpresse nun ergab, dass, während eine kleine Anzahl dieser Pressorgane der Währungsfrage neutral gegenüberstand, die Presse von nur vier Verbänden nämlich der Maurer, Eisen

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