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DER KAMPF UM DAS WEISSE HAUS

IN WASHINGTON.

1.

"I regard the pending Presidential Election as presenting the most dangerous crisis that this country has ever encountered." Mit diesen Worten leitete einer der besonnensten amerikanischen Staatsmänner, der frühere Gesandte der Union am Hofe von St. James, E. J. Phelps, einen offenen Brief ein, in welchem er angesichts der Staatswahlen in Vermont, seinen Entschluss kund gab, sofort für das republikanische Ticket zu stimmen. Man berücksichtige, dass Mr. Phelps zu den anerkannten Führern der demokratischen Partei gehört und dass die anfangs September stattgehabte Wahl in Vermont sich nicht unmittelbar um die gegenwärtig alles überschattende nationale Währungsfrage drehte. "Ich gehöre nicht zur republikanischen Partei- so führt Mr. Phelps in seinem Schreiben weiter aus- und werde ihr niemals angehören. Ich habe kein Vertrauen zur Schutzzöllnerei und werde es nie gewinnen. Aber in den Klauen einer tötlichen Krankheit kann ich nicht daran denken, den einzigen Arzt abzuweisen, der in der Lage ist, mir zu helfen, bloss weil dessen politische Anschauungen von den meinigen verschieden sind, oder weil ich glaube, dass es bessere Aerzte gibt, wenn man sie nur zur Zeit haben könnte." Auch den Einwand, es handele sich hier bei der Wahl eines Governeurs von Vermont doch um eine einzelstaatliche Angelegenheit, lehnt er mit der Bemerkung ab: er würde auch nicht für den ehrenwertesten Gouverneurs

kandidaten einer Partei stimmen, die sich auf die Chicago platform of fraudulent money gestellt habe. Die Staatswahlen in Vermont würden in gewissem Sinne vorbildlich sein und da wolle er sofort mit seinem Votum dazu beitragen, die Wagschale der Geldverschlechterungs-Partei so hoch wie möglich hinaufzuschnellen.

Die Stellungnahme dieses demokratischen Staatsmannes, der keineswegs vereinzelt steht, der vielmehr nur das resolute Wort für die Empfindungen unzähliger empörter Patrioten gefunden hat, ist charakteristisch für die ganz exceptionellen Vorgänge in dem heftig entbrannten Präsidentschaftswahlkampfe. Mr. Phelps erklärt die gegenwärtige politische Krisis für die gefährlichste, die sein Land je durchgemacht habe. Zahlreiche hervorragende Männer versichern mir, dass sie dieselbe Ansicht haben, dass selbst durch die Sklavenfrage keine so gefährlichen Gegensätze hervorgerufen seien, als durch die Währungs-Demagogie. In der Tat, während im Sezessionskriege der Bestand der Union in Frage kam, handelt es sich jetzt recht eigentlich um den Bestand, um die Möglichkeit einer dauernden Aufrechterhaltung der demokratischen Staatsform. Das Wesen dieser Staatsform besteht darin, dass die Majorität herrscht, aber die stillschweigende und entscheidende Voraussetzung dabei ist, dass diese Majorität wenigstens in allen nationalen Lebensfragen ihrerseits von Vernunft und Billigkeit sich leiten lässt. Zeigt die Mehrheit nicht die intellektuelle und moralische Kraft, um dieser Mindestforderung gerecht zu werden, so erscheint das System verfehlt, das einer solchen Mehrheit die ausschlaggebende Macht anvertraut. Es mag unter anderen Völkern und zu anderen Zeiten wieder auferstehen; die Nation dagegen, die bei einer solchen Feuerprobe unterlegen ist, kann nicht mehr als geeignet für die demokratische Staatsform angesehen werden; sie ist reif für eine Pöbelherrschaft. Damit gewinnt der Kampf gegen die free coinage - Bewegung seine grosse politische Perspective.

Aber weiter! Wenn das demokratische Regirungssystem in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo es seit hundert Jahren in unbestrittener Uebung ist, einer zugleich intellektuellen und moralischen Katastrophe zum Opfer fiele, wäre es

dann nicht überhaupt gerichtet? Demokratie heisst Erziehung der Massen zur Selbstverwaltung und zur Erkennung ihrer wichtigsten Lebensinteressen. In ihrer erzieherischen Kraft liegt die Stärke der Demokratie und ihre Ueberlegenheit über die autoritären Staatsformen, die recht wol ein "government for the people" zulassen, aber um Lincolns berühmtes Wort zu gebrauchen kein "government by the people."

Als Alexis de Tocqueville vor sechzig Jahren die démocratie en Amérique zum Gegenstande seiner eindringenden Studien machte, erkannte er mit genialem Blick, dass in der Regirung

by the people," in der Selbstverwaltung, in der décentralisation administrative, wie er es nannte, der Kernpunkt der wahren Demokratie zu suchen sei. Gerade hier erblickte er den wesentlichsten Unterschied zwischen den politischen Institutionen der Vereinigten Staaten einerseits und Frankreichs andererseits, welches letztere unter dem Konvent wie unter seinen Königen wie unten dem Soldatenkaiser stets in gleicher Weise von oben herab am Gängelbande geleitet war. Alexis de Tocqueville steht ganz auf Seite der politischen Selbstverwaltung. "Der Zentralisation so führt er einmal aus gelingt es ohne Mühe, den laufenden Geschäften ein regelmässiges Aussehen zu geben; die Einzelheiten der sozialen Polizei in verständiger Weise zu ordnen; die leichten Unordnungen und die kleinen Delikte zu unterdrücken; die Gesellschaft in einem Zustande zu erhalten, der recht eigentlich weder eine Dekadenz noch einen Fortschritt darstellt; den sozialen Körper in eine Art administrativen Schlummerlebens zu versetzen, das die Verwaltungsbehörden die Gewohnheit haben, die Ordnung und die öffentliche Ruhe zu nennen. Die Zentralisation ist, mit anderen Worten, gross im Hindern, aber nicht im Handeln." Und dann fährt er mit Bezug auf die Vereinigten Staaten fort: "Man kann sagen, dass die kleinen Einzelheiten der sozialen Polizei, die das Leben angenehm und bequem machen, in Amerika vernachlässigt sind, aber die wesentlichen Garantien für den Menschen in der Gesellschaft existiren dort ebenso gut wie irgendwo sonst. Bei den Amerikanern ist die Macht, welche den Staat verwaltet, weit weniger geregelt, weniger aufgeklärt, weniger

gelehrt, aber hundertfach grösser als in Europa. Es gibt kein Land der Welt, wo die Menschen, Alles in Allem, ebenso grosse Anstrengungen zu Gunsten des sozialen Wolbefindens machen."

James Bryce, in seinem A. de Tocquevilles "Démocratie en Amérique" durchaus ebenbürtigem Werke "The American Commonwealth," kommt fünfzig Jahre später in diesem Kardinalpunkte im Wesentlichen zu derselben Schlussfolgerung wie sein französischer Vorgänger.

Und diese durch viele Menschenalter fortgesetzte Erziehung des amerikanischen Volkes zur Selbstverwaltung sollte dasselbe Volk nicht reif gemacht haben, einer Bewegung zu widerstehen, die alle Züge der absurdesten Demagogie an sich trägt ?

II.

Man vergegenwärtige sich kurz die Entwicklung der Dinge. Die beiden grossen Parteien betreiben seit Jahren die Geschäfte des Landes nach alten politischen Schablonen. Grundsätzliche Gegensätze sind wenige vorhanden, und wo sie vorhanden sind, wie in der Zollpolitik, verkümmern sie in der politischen Praxis oder finden in der wechselnden Gunst der Wählerschaft eine gegen das Extreme gerichtete Abstumpfung. Jede der beiden Richtungen verliert allmälich die frische Farbe der Entschliessung und betreibt eigentlich nur noch die Politik des Weiterwurstelns, um ein auf die Regirungsmethode des Grafen Taaffe gemünztes Wort zu gebrauchen. So entsteht ein chronischer Zustand der Halbheit, der unerledigten Fragen, der fruchtlosen Maassnahmen. Dieser Kraftlosigkeit verfällt auch die Währung des Landes, an der bald von dieser Seite, bald von jener herumgedoctert wird, ohne dass die Heilung offenkundiger Schäden wirkliche Fortschritte machte. Inzwischen bildet sich eine dritte Partei, die der sogenannten Populisten, welche die Fructifikation der Unzufriedenheit, speziell der agrarischen Unzufriedenheit mit den niedrigen Preisen für Farmprodukte, en gros betreibt und in den Anpreisung der gewagtesten Heilmittel alle andern politischen Quacksalber bei weitem übertrifft. Die freie Silberausprägung im Wertverhältnis von 16: 1 gegen Gold ist eines

dieser angepriesenen Mittel. Mit diesem Gedanken wird auch im Lager der Republikaner und der Demokraten kokettirt, aber zumeist nur in Verbindung mit der Idee einer internationalen Währungsverbrüderung. Inzwischen naht die Zeit der Nationalkonventionen, auf denen die Präsidentschaftskandidaten zu nominiren sind und das Programm festgestellt wird. Die republikanische Partei beginnt den Reigen in St. Louis. Die Maschinenpolitiker kommen mit ihren alten Schlagworten und man versucht zunächst eine Platform zu zimmern, in der die Schutzzollplanke den breitesten Raum einnehmen soll. In dieser Erwartung war auch Major McKinley zum Kandidaten für die Präsidentschaft im Voraus ausersehen. McKinleys Nomination vollzieht sich ohne Schwierigkeiten, aber die Platform, das Wahlprogramm, nimmt eine andere Gestalt an, als beschränkte Parteitaktiker erwarten: die Währungsfrage tritt in den Vordergrund. Die Konvention nimmt entschiedene Stellung und erklärt sich für sound money. Ein kleiner Teil der Delegirten unter dem Senator Teller von Colorado sprengt den Parteiverband und macht sich bereit, einen gegnerischerseits etwa aufzustellenden Silberkandidaten zu unterstützen. Das geschah im Juni. Im Juli tritt die demokratische Nationalkonvention in Chicago

zusammen.

Die Konvention fällt alsbald unter die Herrschaft der Silberfanatiker. Die bisherigen Hauptführer der Partei verlieren die Zügel aus der Hand; selbst ein in alle Schliche der Parteitaktik so eingeweihter Politiker wie Senator Hill von New-York, sieht sich plötzlich einflusslos. Mit Zweidrittelmehrheit erklärt sich die Konvention für die freie Silberausprägung im Verhältnis von 16 zu 1, während das tatsächliche Wertverhältnis zwischen Silber und Gold 31 zu 1 ist. Man lehnt es rundweg ab, auf das etwaige Zustandekommen eines internationalen Bimetallismus zu warten. America farà da se. Unter heftigen Anklagen gegen goldbugs (Goldwanzen), Syndikate, Trusts und die money power im Allgemeinen geht die Konvention über alle Einwendungen der Wissenschaft und der Erfahrung zur Tagesordrung über, und es erscheint nur logisch, dass ein feuriger politischer Declamator wie in einem Rausch zum Führer der free coinage-Bewegung ausersehen

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