Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

Menschennatur. Allgemein menschliche Cultur galt ihm für die höchste Vollendung der Religion, weßhalb er die Glaubenssäße möglichst allgemein und einfach, die Kirche möglichst umfassend wünschte und Toleranz und Menschenliebe als die erste christliche Tugend pries. ,,Licht, Liebe, Leben“ war sein schöner Wahlspruch.

*) Zu solchen Uebertragungen der orientalischen und südländischen Dichtungen „drängte Herdern seine innerste Natur, die der Poesie überall bedurfte und nicht selbst poetisch war; die ihre Genüsse suchte, aber nicht selbständig erschuf.“ Denn seine eigenen lyrischen und didaktischen Gedichte sind in der Form hart und ungelenk, dem Juhalte nach lehrhaft, philosovhisch und von düsterer Färbung. Seine dramatt= schen Dichtungen sind eine Mischung von Oper und Schauspiel und beabsichtigten, das griechische Drama der herrschenden Gemeinheit der Bühne entgegenzuseßen.

§. 78. Herder's Werke. Von den Literaturbriefen angeregt, schrieb Herder seine Fragmente zur deutschen Literatur, worin er in kecem, poetischem Stil vortreffliche Bemerkungen über Literatur, Sprache, Metrik macht, die edle Größe Homer's und der hellenischen Dichter mit warmer Beredsamkeit hervorhebt, seine Belessenheit in alter und neuer Literatur beurkundet und seine Ahnungen und Begriffe von höherer Poesie andeutet. Zog er hier mit seinen anregenden Beobachtungen gegen die neuere Dichtung zu Felde, so bekämpfte er in den kritischen Wäldern die neuere Kritik und namentlich die im Laokoon u. a. W. ausgesprochenen Kunsturtheile Lessing's, setzt aber nicht selten unflare Empfindungen den lichtvollen Behauptungen jenes scharfen Denkers entgegen. In den mit Goethe herausgegebenen Blättern von deutscher Art und Kunft drückte er zuerst in einer Sprache voll sinnlicher Gluth seine Bewunderung für Ossian, für Naturdichtung und für eine Ursprache aus, wo noch keine Scheidung zwischen niedern und hohen Ausdrücken, zwischen dichterischen und prosaischen Wörtern eingetreten sei; er erklärt aller Kunst und Regel den Krieg, nur die Volkspoesie mit ihrer kräftigen Sinnlichkeit, mit ihrer bilderreichen Phantaste, mit ihren ungestümen Leidenschaften und Naturtrieben hat in seinen Augen Werth. Diese Vorliebe für die schwunghafte, kunstlose Volksdichtung führte ihn zur Bearbeitung des poesievollen Buches Stimmen der Völker, einer Sammlung von Volksliedern, worin die vorherrschenden Stimmungen, Seelenzustände und Charaktere der verschiedenen Nationen mit überraschender Treue und Einfalt aufgefaßt und durch taktvolle Wahl und feine Wandlungsgabe dargestellt sind. Unter denselben Eindrücken verfaßte Herder das anregende, wirksame Buch vom Geiste der hebräischen Poesie (1782), das seine Gabe der Auffassung und Auslegung meisterhaft beurkundete. Dieses Buch war sein Lieblingswerk; er wollte dadurch die ihm so theuere Bibel der Jugend ans Herz legen, daher auch die übertragenen Stellen,,Zweck und Frucht“ find, das Uebrige nur,,Schale". Auch die Uebersetzungen morgenländischer Sagen, Dichtungen und Sprüche, die in den Palmblättern mitgetheilten lehrreichen Erzählungen bes Orients, die in Para mythien zu Parabeln umgebildeten Mythen der Griechen, die Nachbildung einiger Stücke der griechischen Anthologie und die spanischen Romanzen vom Cid, in denen sich Herder's Uebersetzungskunst und eigene Dichtergabe berühren, sind in diesem Geiste verfaßt. Wie Herder in Dichtungen das Fremdartigste und Fernliegendste ergriff und überall auf die Anfänge und das Ursprüngliche zurückging, so suchte er mit „,prometheischer Himmelsstürmerei" alle Verhältnisse des Lebens und alle Wissenschaften geistig zu durchdringen und sich die verschiedenartigsten Kenntnisse anzueignen. In dem Tagebuch, das er während der Seereise, die ihn von Riga nach Frankreich führte (1769), entwarf, durchkreuzen sich die kolossalsten Vorsätze, Pläne und Projekte, die ebensowohl den hohen Flug seines Geistes und seine Ruhmbegierde, als seine Ueberschätzung und Selbsttäuschung beurkunden. Philosophie und Urgeschichte waren die Hauptgebiete, auf denen sich sein dichterisch schaffender Geist bewegte. Das geistreiche Schriftchen über den Ursprung der Sprache, als deren Quelle er die menschliche Vernunft aufstellte, die vielangefochtene, mit orientalischem Geist ver faßte älteste Urkunde des Menschengeschlechts, worin er mit dem Zorn und in der Sprache eines Propheten gegen die dürren Auslegungen der Schöpfungsgeschichte eifert

Goethe 17491832.

und eine poetisch allegorische Deutung aufstellt, die den Rechtgläubigen mißfiel, sind nur Vorstudien zu seinem größten und berühmtesten Werke Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.

In diesem poesiereichen Buche fucht Herder aus der Beschaffenheit der Erde und der Natur eine Fortbildung oder Stufenleiter der Geschöpfe nachzuweisen, aus der Organisation des Menschen, dessen Bernunft: fähigkeit und dessen äußere Bildung seine Anlage zur Humanität und Religion herzuleiten und ihn als Mittelglied zweier Welten darzustellen; dann baut er mit Phantasie und orientalischem Schmuck ein fühnes Ge bäude von urweltlichen Traditionen auf, von denen Wissenschaften, Künste, Regierungen u. í. w. hergeleitet werden, und stellt die Religion als älteste und heiligste aller ererbten Traditionen dar. Dabei dient ihm Moses' Schöpfungsgeschichte, die er durch kühne, geniale Deutungen mit den Resultaten der neuesten Naturforschung in Uebereinstimmung zu bringen weiß, als Hauptpunkt.

Dieses mit poetischem Schwung und edlem Enthusiasmus und in bilderreicher Sprache verfaßte Werk, das Humanität für den höchsten Zweck der Menschennatur erklärt und das rein Menschliche über das Christliche stellt, war von der größten Wirksamkeit. Ale Gebildeten, die dem dürren Symbolglauben der Orthodoxen eben so abhold waren wie der zerstörenden Denkgläubigkeit der Neuerer, flüchteten sich zu Herder's Religionspoesie, die der Phantasie und dem Gemüthe Nahrung gab, ohne den denkenden Geist zu fesseln. Die strenggläubigen Theologen waren dagegen weder mit den kühnen freien Grundsähen der Ideen, noch mit der profanen Uebertragung alttestamentlicher Schriften zufrieden (Lied der Liebe oder die ältesten und schönsten Lieder des Morgenlandes, Maran Atha oder von der Zukunft des Herrn u. a.). Aber Herder ließ sich nicht irre machen; in seinen Briefen über das Studium der Theologie suchte er das empfängliche Gemüth der Jugend für die poetische Auffassung des Christenthums, wobei die Glaubenslehre in den Hintergrund tritt, zu begeistern. Menschenbildung (Humanität) war Herder's schönes und großes Ziel, in der allgemein menschlichen Cultur erblickte er die höchste Vollendung der Religion; dies sprach er aus in den Humanitätsbriefen und in den christlichen Schriften, worin er auf die leßten Quellen und den reinsten und einfachsten Kern des Christenthums zurückging und einer Menschheitsreligion und Weltkirche im Gegensatz zu den bestehenden Landeskirchen und Sekten das Wort redet, wobei natürlich ein möglichst weites Glaubensbekenntniß zum Grunde liegen müßte. Herder's letzte Werke waren gegen Kant gerichtet (Kalligone u. a.), dessen „tonloses Gemüth" der phantasievollen Natur Herder's nicht zusagen konnte.

VI. Goethe und Schiller.

1. Goethe's Jugend.

§. 79. Goethe's Jugendleben. In keinem Dichter spiegelt sich die Zeit so klar und richtig ab als in Goethe, was von seiner Beobachtungsgabe und Empfänglichkeit für alle Eindrücke zeugt. Geboren zu Frankfurt a. M. (am 28. Aug. 1749), ward er frühzeitig mit den verflochtenen Verhältnissen und sittlichen Zuständen einer großen Stadt vertraut, zum Nachtheil seiner jugendlichen Unschuld, daher auch seine ersten, in den beiden Luftspielen „die Laune des Verliebten“ und „die Mitschuldigen" niedergelegten, dramatischen Versuche das Sittenverberbniß im Familienleben zum Mittelpunkt haben und keine Spur jugendlicher Dichterbegeisterung verrathen. In Leipzig, wo er die Rechte studirte, kam er in Verbindung mit Gellert und den Verfassern der Bremer Beiträge (Anh. §. 58), fühlte sich aber abgestoßen von der engen Literatur und dem niedern Gesichtskreis dieser schwunglosen Dichter. Klopstock, dessen Gedichte er schon im elterlichen Hause, zum großen Verdruß seines regelrechten, pedantischen Baters, gelesen, blieb der Gegenstand seiner Bewunderung, bis Lessing's Laokoon, Windel mann's Kunstgeschichte und Büffon's neue Gestaltung der Naturwissenschaft seinem Geiste eine neue Welt erschlossen. Kunst und Naturkunde blieben von dem an die Gebiete, auf denen sein forschender Sinn am liebsten weilte; die Weltgeschichte zog ihn

[merged small][ocr errors]

weniger an. Nach einem kurzen Aufenthalt in Frankfurt, wo er sich mit mystischchemischen Werken befaßte und mit Pietisten und Herrnhutern verkehrte (Fräulein von Klettenberg, aus deren Unterhaltung,, die Bekenntnisse einer schönen Seele" in Wilhelm Meister entstanden), begab er sich nach Straßburg, wo die anregende Einwirkung Herder's seinen Blick auf die Natur und Volksdichtung richtete, ihm Geschmack an der Bibel, an Ossian und Shakespeare einflößte uno ihm die Ansicht beibrachte, „daß die Poesie eine Welt und Völkergabe sei, nicht ein Privaterbtheil einiger fein gebildeten Männer". Das ehrwürdige Münster flößte ihm Bewunderung für die gothische Bauart ein, und sein Liebesverhältniß zu Friederiken, der Pfarrerstochter zu Sesenheim, füllte sein Herz mit zarten Gefühlen und hauchte seiner Lyrik jenen seelenvollen, empfindungsreichen Ton ein, der in seinen schwunghaften Liedern so ergreifend nachklingt.

§. 80. Göt und Werther. Große Entwürfe wurden gefaßt, aber bedachtsam zurückgehalten; nur das dramatische Gemälde Göß von Berlichingen, worin sich das Freiheitsgefühl, das damals über den deutschen Boden zog, Luft machte, ist als eine Frucht der Straßburger Eindrücke und der Bewunderung für Shakespeare zu betrachten. Die männlich deutsche Natur des Ritters mit der eisernen Hand athmet den kühnen, derben Geist der Sturm- und Drangperiode, die mit der bewegten Zeit der beginnenden Reformation manche Aehnlichkeit hatte. Trefflich erfaßte und zeichnete Goethe diese mächtige Zeit mit ihren gewaltigen Charakteren und lebendigen Leidenschaften, mit ihrer Liebe und ihrem Haß; das scheidende Mittelalter mit seiner ritterlichen Tugend und Treue in Göt und seiner Umgebung und die neu hereinbrechende Culturwelt mit ihrer sinnlichen Luft und höfischen Tücke in dem Bamberger Hof. In der edeln Gestalt des Lerse hat Goethe einen frühverstorbenen Straßburger Freund verewigt. Mit Götz hatte sich Goethe,,den Shakespeare vom Halse geschafft“; nun griff er in seiner eigenen Seele nach neuen Stoffen. In dem poetischen Roman Leiden des jungen Werther schildert er einen von den Ideen der kraftgenialischen Zeit durchdrungenen Jüngling, der, mit der Wirklichkeit zerfallen, sich in das Reich der Dichtung zu dem schwermüthigen Ossian und in die einsame Natur flüchtet und endlich ein Raub der Empfindung wird, indem er sich aus Liebesgram das Leben nimmt. Dieses geniale Werk, wodurch sich Goethe von der eigenen Krankheit einer erschlaffenden Empfindsamkeit Heilung verschaffte, erregte einen Sturm von Beifall, Nachahmung und Widerspruch. Die zarten, sentimentalen Seelen vergötterten Werther und seinen Verfasser und riefen dadurch eine Fluth liebeschmachtender und schwermuthathmender Romane ins Leben, unter denen nur Miller's,,Siegwart, eine Klostergeschichte" diese schwärmerisch empfindsame Zeit überdauert hat; die lutherischen Rechtgläubigen dagegen Göze mit der Fahne des bedrängten Zions an der Spitze" erhoben laut ihre Stimme wider das sündige Buch, in dem der Selbstmord als eine Heldenthat gepriesen werde, und Nicolai, das Haupt der trockenen, prosaischen Sitten- und Kunstrichter in Berlin, suchte das poetische Werk, worin er fittengefährdende, charakterentnervende Lehren fand, durch eine matte Parodie,, Freuden und Leiden des jungen Werther" lächerlich zu machen.

[ocr errors]

Goethe's Liebe zu Lotte, der mit ,,Albert" verlobten Tochter eines Amtmanns in Wezlar, wo der Dichter damals am Reichskammergericht arbeitete, war tie nächste Veranlassung zu dem in Briefen verfaßten Liebesroman, dem gerade diese wirkliche Unterlage die Wärme und Frische verlieh. Auf den tragischen Nusgang hatte offenbar der, wie man vermuthete, durch die Liebe zu einer verheiratheten Frau herbeigeführte Selbstmord des jungen Jerufalem, eines Bekannten von Goethe, großen Einfluß. Nicolai's plattes Machwerk, in dem Werther mit einer Besudelung durch die mit Hühnerblut geladene Pistole davon kommt, schadete nur dem Verfasser, ohne die Wirkung des Goethe'schen Romans zu schwächen. Im Siegwart wollte Miller eine,,tugendhafte“ Liebe darstellen, darum endet Siegwart nicht durch Selbstmord, sondern verschmachtet auf dem Grabe Mariannens.

Goethe rächte sich an seinen Gegnern in den mit seinem Schwager J. Georg Schlosser und seinem sarkastischen, aber geschmack und urtheilvollen Freunde Merd herausgegebenen Frankfurter Anzeigen durch derbe, mit reformatorischer Kühnheit ab

1775.

gefaßte Artikel, worin er gegen das,, Berliner Laternenlicht“ und gegen die „Hamburger Dunkelheit" losfährt; und gereizt durch eine ungünstige Recension des Göz in Wieland's Mercur, verspottete er dessen matte und wässerige Darstellung des hellenischen Wesens durch die wißige Farce,,Götter, Helden und Wieland.“

"

§. 81. Frankfurt. Weimar. Diese Werke, die in Deutschlands Literatur eine neue Epoche begründeten, lenkten die Aufmerksamkeit von ganz Europa auf den genialen Dichter, der damals in voller Kraft und männlicher Schönheit ftand, und dessen Leichtigkeit, sich in jede fremde Natur zu finden, auf Alle eine bezaubernde Wirkung machte. Sein heiterer Lebensmuth, seine Wärme, seine Achtung vor jeder ganzen Natur, mochte sie auch von der seinigen noch so verschieden sein, gewannen ihm Aller Herzen. Er stand brieflich und persönlich mit den bedeutendsten Männern der Zeit im Verkehr. Keɗe Satiren in Hans Sachsischer Art and Form (Pater Brei, Jahrmarktsfest zu Plundersweiler u. a.), Jugendlieder, worin er nach Art des alten einfachen Volks, lieds,,Alles mit Bildern belebte, allen Gedanken Gestalt zu geben wußte“, Entwürfe zu größern Gedichten (Faust, Prometheus, von welchem letteren nur der stolze Monolog erschien) störten ihn nicht im frohen Lebensgenuß. In alle Zustände wußte er sich leicht zu finden, Allem eine poetische Seite abzugewinnen. Als heiteres Weltkind machte er mit Lavater und Basedow (,,Prophete rechts, Prophete links") die bekannte Rheinreise. Seine lyrischen Gedichte, besonders seine seelenvollen Lieder", sind der Spiegel dieser Lebensfülle. „Die heitere und trübe Stimmung, angelehnt an ein Lebens- und Naturbild, spricht und lebt sich in einem Rhythmus aus, welcher Ton und Färbung wunderbar wie dergibt, und in so maßvoller Haltung, daß das ungestörte Walten der Empfindung wie aus innersten Tiefen herausbricht." Zarte Verhältnisse, wie sein Verlöbniß mit „Lili“ (Anna Elisab. Schönemann), sein Verkehr mit Maximiliane Brentano geb. Laroche, sein poetischer Briefwechsel mit Auguste v. Stolberg, hielten sein Gemüth in Aufregung und seine Dichterphantasie in Thätigkeit. Das Drama,,Clavigo“ nach den Memoiren des französischen Dichters Beaumarchais mit Anklängen an sein eigenes Verhältniß zu Friederike von Sesenheim, „Stella“, ein Schauspiel für Liebende, die Singspiele Erwin und Elmire, und Claudine von Villa Bella stammen in ihrer ersten Gestalt aus dieser Frankfurter Periode und geben Zeugniß von des Dichters rascher Erfindungsgabe und hoher Sprachgewandtheit. Diesem Lebenskreise wurde Goethe durch seine Berufung nach Weimar, dem Sammelplatz der größten Geister jener Zeit, entrissen. Der Umgang eines gebildeten, heiteren Hofes, dessen Seele die geistreiche, anregende Herzogin Anna Amalia war, im Besitze der Freundschaft und Gunst des Herzogs Karl August, der ihn zum Geheimen Rath ernannte, bewundert und geschmeichelt von Jedermann, ließ sich Goethe anfangs ganz vom Strudel des Lebens fortreißen. Ueber Festen und geselligen Freuden, wobei ihn der freie, frohe Ton fesselte, über der Besorgung eines Liebhabertheaters, für das er Sing spiele (Jery und Bätely - Lila) und kleinere dramatische Stücke (der Triumph der Empfindsamkeit, die Geschwister) verfaßte, über Reisen (erste und zweite Harz reise, Reise nach der Schweiz), Staatsgeschäften und Zerstreuungen aller Art fand er nicht Zeit, die großen Entwürfe seines Innern zu gestalten und die angefangenen Werke zum Abschluß zu bringen. Er überließ sich dem Genusse und dem äußern Leben, sammelte aber innere reiche Erfahrungen für die Zukunft. Besonders war der Umgang mit Frau von Stein auf seine dichterischen Erzeugnisse, vor allen auf seine Lyrik vom größten Einfluß.

2. Goethe in Italien und Schiller's Anfang.

§. 82. Iphigenie, Tasso, Egmont. Die im Jahre 1786 unternommene italienische Reise gab dem Geiste Goethe's neue Schwungkraft und weckte den erlahmten

Schöpfungstrieb. Das seiner empfänglichen Natur so sehr zusagende südländische Treiben, Italiens Reichthum an Naturerzeugnissen und Kunstschäßen, das freie, zwanglose Leben und der ganze über dies Land ausgegossene Zauber wirkten wunderbar anregend auf Goethe. Er gab sich den mannichfaltigsten Eindrücken hin und befaßte sich mit den verschiedenartigsten Dingen. Das Wohlgefallen an der klassischen Vollendung der Alten verdrängte die kraftgenialische Formlosigkeit; die nordisch düstere Poesie, die im Werther vorwaltete, wich dem Geschmack an der klaren, barmonischen Schönheit der Griechen; Ossian und Shakespeare traten gegen Homer und Sophokles zurück. Griechische Kunst und hellenisches Wesen fanden allein Geltung vor seinen Augen und erstickten sein früheres Wohlgefallen an christlich - gothischer Baukunft. Der reinste Abdruck dieser antiken Anschauung nach Inhalt und Form ist das herrliche, von hellenischem Geiste durchwehte Drama Iphigenia, worin der Dichter „die reinste Blüthe der modernen Sittigung mit den reinften Formen des unbewußt schaffenden Alterthums in eine harmonische Mischung zu verbinden wußte." Der große, klare Geist des Alterthums ist durch moderne Weichheit und Innigkeit gemildert und über das Ganze der Hauch der Versöhnung und des Friedens ausgegossen. Die deutschen Auswanderungen, die seit der Eroberung der Halbinsel Krim (Tauris) durch die Nussen (Lehrb. §. 696) nach jenem fernen Ostlande unternommen wurden, gewährten dem Stück noch ein eigenthümliches Zeitinteresse. Wie Goethe in der Iphigenia die Eindrücke der antiken Welt niederlegte, so in dem zarten, gemüthvollen Drama Torquato Tasso die aus den italienischen Dichtern Tasso und Ariost geschöpften Empfindungen. In dieses Kunstwerk, worin der Zwiespalt zwischen Dichter und Weltmann mit so vieler Seelenkenntniß und Feinheit gezeichnet ist, hat Goethe seine innersten Erfahrungen und geheimsten Gefühle hineingetragen. Der naheliegende Vergleich zwischen den kunstliebenden Höfen von Ferrara und Weimar machte die Beziehungen noch feiner. In beiden Stücken ist wenig Handlung, aber Goethe wußte die,,Gesinnung zur Handlung" zu machen. Hat Tasso seinen Hauptwerth in der Fülle edler Gedanken und den schönen Lehren praktischer Lebensweisheit, so ist Iphigenia ausgezeichnet durch die tief durchdachte künstlerische Anlage, die vollendete Form und die Einfachheit der Handlung. Goethe's Tagebuch der italienischen Reise, so wie seine lebendige Beschreibung des römischen Carnevals beweisen, daß auch sein prosaischer Stil durch die neuen Eindrücke und den neuen Aufschwung zu hoher Vollendung geführt ward. „Wo er seine Feder ansetzte, ist unnachahmlicher Reiz und durchweg fühlbare Anmuth ausgegossen. Er schaltete in der Schriftsprache königlich."

Alles, was Goethe von dieser Zeit an schrieb, trägt die Einwirkung der italienischen Erfahrungen an der Stirne und ist besonders in Beziehung auf Form von den Produkten der ersten Periode durch eine weite Kluft geschieden. In dem Trauerspiel Egmont, das er in frühern Jahren entworfen, aber erst nach dem italienischen Aufenthalt ausgearbeitet hat, erscheint die alte und neue Richtung gemischt.

Der Stoff selbst und die lebendig geschilderten Volksscenen erinnern an Shakespeare und Göß, aber die Anlehnung des Ganzen an den Haupthelden, dessen Liebenswürdigkeit, Selbstvertrauen, Volksgunst und Tapferkeit der Dichter mit so viel Liebe und Geschick gezeichnet, verräth den Einfluß antiker Kunstregel. Der auffallende Ausgang scheint von Goethe's gleichzeitiger Beschäftigung mit dem italienischen Singspiele herzurühren.

§. 83. Faust. In keinem Werke hat Goethe so sehr sein eigenes inneres Leben und seine menschliche und poetische Entwickelung dargelegt als in dem dramatischen Werke Faust. Diese Dichtung, deren Grundzüge schon in der frühesten Jugend entworfen wurden und deren Abschluß erst ein Jahr vor seinem Tode erfolgte, zieht durch Goethe's langes Leben hin, daher die große Verschiedenheit nicht nur des ersten Theils vom zweiten, sondern auch der einzelnen Partien im ersten selbst. Daß aber darin dennoch „das Schönste, was poetische Darstellung geben kann, mit beneidenswerther Leichtigkeit und Ueberlegenheit niedergelegt ist, und wie der Dichter in die Tiefe des menschlichen Wesens

« ZurückWeiter »