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mehr er mit den retrograden Schritten der Bourbons unzufrieden war, und es trieb ihn zu jenen Aeußerungen des Zorns und Unmuths, des Spottes und der Satire, der Klage und Rüge, die seine Lieder zu einer so furchtbaren Waffe gegen die Restauration machten. Ein tapferer Julikämpfer, schlug er auch unter Louis Philipp die angebotene Stelle aus, um ein unabhängiges, wenn auch armes Dichterleben zu führen. Seitdem war seine Muse schweigsamer geworden. Die außerordentliche Theilnahme bei seiner Beerdigung gab den Beweis, daß ihm die Volksgunst bis zum letten Augenblick treu geblieben.

„Béranger's volksthümliche Leier ist reich besaitet; die epikureische Philosophie des 18. Jahrhunderts (,,le Dieu des bonnes gens" u. a.), die Freiheitsbegeisterung der Revolution (,,la déesse“; „le vieux sergent“ u. a.), der kriegerische Napoleon-Enthusiasmus („les deux grenadiers“; „,les souvenirs du peuple“), der liberale Spott auf die versuchte Renovation des ancien régime (,,le marquis de Carabas“; „les Missionnaires“; „Nabuchodonosor" u. a.); die warme Theilnahme an der Befreiung und Beglückung der Völker (,,la sainte alliance des peuples"; „hâtons-nous!“ u. a.); die gesellige Heiterkeit und der Weinscherz (,,ma republique" u. a. m.); Liebesluft und Leid (,,qu'elle est jolie!"; „la vertu de Lisette" u. a.); die humoristische Begnügung und Zufriedenheit („le roi d'Yvetot"; „Roger Bontemps"); der freie gesunde Spaß („mon curé";,,le sénateur"), das faunische Schmunzeln (,,le vieux célibataire"), endlich die ganze Wucht der Noth, die ganze Bitterkeit der Sklaverei, welche auf den Armen und Unterdrückten lastet (,,Jeanne-la-Rousse“; „le vieux vagabond“; „la pauvre femme“) — dieses Alles spricht, jubelt, kichert, lacht, grollt und weint aus Bérangers Chansons mit einer Innigkeit und Wahrheit, Anmuth und Kraft, welche deutlich fühlen lassen, daß in dieser Poesie wirklich das Volksherz klopft."

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In den zwanziger Jahren fand der gehaßte Liberalismus zwei fruchtbare Vorkämpfer in August Barthélemy (geb. 1796 in Marseille) und seinem Studiengenossen Méry (geb. 1794), die das herrschende System in einer Reihe satirischer Flugschriften und Gedichte angriffen und verspotteten (,,la Villéliade"; „la Corbièreide“; „la Censure“ u. a. m.). Wegen dieser und einiger andern zur Verberrlichung Napoleons geschriebenen Gedichte (,,Napoléon en Egypte"; "le fils de l'homme") verfolgt und mit Gefängnißstrafe belegt, erlebten sie einen kurzen Triumph durch die Julirevolution, gaben aber schon im nächsten Jahr in dem Gedicht,,la dupinade ou la révolution dupée" ihren Aerger über die getäuschten Erwartungen kund. Einer der schärfsten Satiriker des modernen Frankreichs, der mit rücksichtsloser Strenge alle volksfeindlichen und freiheitgefährdenden Handlungen und Bestrebungen der Vornehmen und Mächtigen geißelt und mit demokratischer Barbier Entrüstung die Leiden der Völker schildert, ist August Barbier von Paris. In dem „Jägerrecht" (la curée) züchtigt er die feigen Intriganten, die aus der ohne ihr Zuthun durchgeführten Julirevolution ihren Vortheil zu ziehen und das Volk um deren Früchte zu betrügen suchten; das Gedicht „,l'Idole" ist eine scharfe Rüge gegen den als Abgott verehrten Kaiser Napoleon; in der „popularité" gießt er seinen Zorn über die entehrende Corruption der höhern Stände aus. Nachdem er in diesen und andern energischen Satiren, die er unter der altgriechischen (archilochischen) Benennung Jamben herausgab, die Zustände seines Vaterlandes geschildert, klagte er in seinen spätern Dichtungen „Il Pianto“ und „Lazare" über die Lage des Volks in dem unglücklichen Italien und in England, doch mit verminderter Kraft.

geb. 1808.

Sociale Roman= Iiteratur.

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Der literarische Liberalismus, wie er sich in den Satiren P. L. Couriers und oran, in den populären Liedern Bérangers fund gab, theilte mit dem politischen den Mangel der Productivität; mehr widersprechend und verneinend als erzeugend konnte er

1799

(Frau

vant)

den geistigen Bedürfniffen des Volks nicht auf die Länge genügen, er war nur ein in die träge Masse des Romantismus hinein geworfenes Ferment, das aber selbst teine gesunde und kräftige Nahrung gewährte. Aus einer Verbindung beider Kunst= richtungen, jedoch mit vorherrschend negirenden, reformirenden oder auflösenden Zielen, ging der sociale Sitten- oder Tendenz-Roman hervor, der das vielgestaltige Familienleben und die gesellschaftlichen Zustände in allen ihren Erscheinungen und Formen zur Unterlage hat und sich an die innersten Lebensfragen und Grundbedingungen der menschlichen Gesellschaft anlehnt. Der erste Schriftsteller, der das Familien- und Gesellschaftsleben der Gegenwart und die Windungen und Geheimnisse des menschlichen Herzens erforschte und in seinen zahlreichen Romanen, jedoch ohne Nebenbeziehungen und Absichten wie ohne tiefere Seelenkenntniß darstellte, war Honoré Balzac aus Tours, dessen Schilderungen des Lebens und Palzac Treibens in der Provinz von Menschenkenntniß und Beobachtungssinn zeugen. Aber 1850. die eigentliche geniale Schöpferin des socialen Tendenzromans ist die unter dem Namen George Sand bekannte Marquise von Dudevant aus der Provinz George Berry, welche die Mystik, die Gefühlsamkeit und das Seelenleben der ersten Roman-ra tiker mit den Freiheitsideen und dem Demokratismus der liberalen Literatur und mit Dudes dem eigenwilligen, nach Emancipation von den Sittengefeßen und auf Befriedigung geb. 1804. der Triebe gerichteten Streben des modernen Socialismus zu einer neuen künstlerisch vollendeten, aber sittlich verderblichen Gattung verband, die, gehoben durch die edle und träftige Sprache, die klar gestaltete Darstellung und die Wahrheit und Tiefe der Beobachtung und Schilderung, und unterstüßt durch die frivole Zeitrichtung, bald die größte Verbreitung fand und alle ähnlichen Erzeugnisse verdunkelte. Nach der „,Indiana", ihrem ersten bedeutenden Roman, erschien kurz nach einander eine Anzahl ähnlicher Werke (,,Valentine";,,Simon"; ,,André“; „Leone Leoni“; „,,Jacques"; „Lelia“), welche alle die Tendenz hatten, die gesellschaftlichen Einrichtungen in ihren verschiedenen Erscheinungen als unnatürlich, morsch und ungerecht hinzustellen und insbesondere die Frauen gegen die Geseze der Ehe, der Convenienz, der Sitte in Schutz zu nehmen und die allberechtigende Macht der Liebe zur Anerkennung zu bringen. Alle Probleme der Liebe und Ehe wurden von George Sand nicht nur berührt, sondern in schrofffter, oft paradoxer Fassung entwickelt; über die grellsten Schilderungen sinnlicher Leidenschaften breitete sie den ätherischen Hauch eines ideellen Lebens, das mit heißem Reformdrange, mit ahnungsvollen Pulsschlägen in die unheimlichen Verwickelungen der Gegenwart vibrirte." Die Schilderung der menschlichen Leiden, die in den verkehrten Einrichtungen der Gesellschaft ihren Ursprung und ihre unverfiegbare Quelle haben, wirkte auf das unzufriedene, neuerungssüchtige, fleischeslustige und sinnliche Geschlecht mit um so unwiderstehlicherer Gewalt, als die wirklichen Uebel der Gesellschaft, an deren Vorhandensein nicht zu zweifeln war, die Wahrheit der Darstellung zu beweisen schienen, nur daß mit einem der Eigenliebe schmeichelnden Kunstgriff die Ursache der Uebelstände in den Einrichtungen statt in der sündhaften Menschennatur gesucht ward. Die in diesen Romanen mit allem Reiz der Darstellung entwickelte Lehre, daß die Triebe und Leidenschaften des menschlichen Herzens ein Recht auf Befriedigung hätten, trug nicht minder zur Er- . schütterung der auf Gesetz, Herkommen und uralter Uebereinkunft beruhenden staatlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen bei, als die sophistischen Truggebilde des modernen Socialismus. Angeregt durch Lamennais' (§. 813) religiösen Demokratismus wendete sich George Sand in ihren spätern Schriften mehr den politischen und religiösen Ideen zu: so in,,Spiridion"; Horace";,,Consuelo“ und „Gräfin von Rudolstadt“. Im französischen Handwerksburschen"; in „Iohanna"; im,,Müller von Angibault" u. a. suchte sie dann diesen socialistischen Gedankenkreis im Volke zu entwickeln. G. Sands neueste Romane (la mare au diable;

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Gue

François le Champi; la petite fadette) stellten das Volksleben in der Provinz
Berry in anziehender Weise und ohne sittengefährdende Tendenz dar.

Aurore Dupin, Tochter eines natürlichen Sohns des bekannten Marschalls von Sachsen, wurde im Kloster erzogen und in ihrem 18. Jahr ohne alle Neigung an den Marquis von Dudevant verheirathet, dem sie zwei Kinder gebar. Ihre wechselvollen Lebensschicksale, ihre Jugendjahre, Umgebung und Bildungsgang hat sie selbst unlängst in reizender Dar. stellung der Welt fund gethan. Ueberbrüssig dieses ehelichen Verhältnisses ohne Sympathie, verließ sie ihren Gatten und begab sich arm und hülflos nach Paris (1831), wo sie in Gemeinschaft mit ihrem Freunde Jules Sandeau sich mit literarischen Arbeiten befaßte, Ihr erstes Werk „Rose et Blanche" machte wenig Eindruck, desto größere Sensation erregte im nächsten Jahr (1832) ihr zweiter unter dem Druck der bittersten Sorgen verfaßter Roman,,Indiana", in welchem alle Leidenschaften und Zerwürfniffe, alle Schmerzen und Conflicte, alles Elend und alles Sehnen, Alles, was die moderne Gesellschaft bewegt, zu einem Gemälde vereinigt sind, das mit den einfachsten Mitteln die höchste Wirkung erreicht, in der Wahrheit bis zum Schrecken ergreifend, in seiner Form vollendet ist.“ Ein Scheidungsprozeß, den sie hierauf unternahm, wurde zu ihren Gunsten entschieden; fie erhielt ihre Kinder und ein nicht unbeträchtliches Vermögen zurück. Nun lebte sie abwechselnd in Paris, auf dem Lande und auf Reisen. „Ein Sommer im Süden von Europa“ find Erinnerungen und Eindrücke ihres Aufenthaltes auf Minorka; ihre „Briefe eines Reisenden" gestatten einen Blick in ihr Gemüthsleben gleich den Bekenntnissen Rousseau's; in den „fieben Saiten" versteigt sie sich in die romantische Mystik und Symbolik. Im Spiridion“ wird auf ergreifende Weise gezeigt, wie ein hoher Geist und ein edles Herz durch alle Pein, durch allen Jammer des Durstes nach Wissen, des Zweifels, des Unglaubens, der Verzweiflung und der Gleichgültigkeit zu einer geläuterten Ueberzeugung, zu einer freudigen Gewißheit, zu einer zugleich vernünftigen und chriftlich moralischen Weltanschauung hindurchdringt."

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Der Beifall, den George Sand durch ihre Tendenzromane fand, führte bald Andere auf dieselbe Bahn. Am nächsten an Ruhm, aber nicht an Tiefe und GeEugen dankenfülle, steht Eugen Sue, der Sprößling einer wohlhabenden, in der medi1804- cinischen Welt rühmlich bekannten Familie aus der Provence. Nachdem er als 1857. Militärarzt Spanien kennen gelernt, dann Amerika und Griechenland bereist hatte, widmete er sich der Romanschriftstellerei und begründete zunächst den Seeroman in Frankreich. Aber weder durch diesen, noch durch den historischen Roman, dem er sich nachher zuwandte, erlangte er solche Berühmtheit, wie durch die an Zeitideen angelehnten und das Elend der Armuth und die Gräuel des Lasters schildernden Sittengemälde mit socialistischen Tendenzen. Unter diesen haben die „Geheimnisse von Paris"; die „sieben Todsünden"; der ewige Jude“ und „,,Martin der Findling" eine unglaubliche Verbreitung erlangt und nicht wenig zur socialistischen Revolution des Jahres 1848 beigetragen. Nach dem Staatsstreich 1852 aus Paris flüchtig, starb er am 13. August 1857 zu Annech in der Sehnsucht nach dem FreuSouveftre denleben in Paris, dem er von jeher sehr ergeben gewesen. Emil Gouvestre, geb. 1800. der in seinen früheren Schriften die Gegensätze zwischen Armuth und Reichthum socialistisch-romantisch ausbeutete, hat in seinen neuesten „Familienromanen“ einen harmlosern Stoff gewählt.

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Dieselbe Regsamkeit, die sich in der poetischen Literatur der Franzosen kund giebt, zeigt sich auch in den übrigen Gattungen, besonders in einer ausgedehnten journalistischen Thätigkeit. Eine Menge Zeitschriften, durch literarische Bei= gaben (Feuilleton) anziehender gemacht, nehmen die bedeutendsten schriftstellerischen Kräfte in Anspruch und dienen häufig zur Niederlage der neuesten Erzeugnisse im Roman, in Reisebildern (Mar mier), in ästhetischer und kritischer Belletristik (Jules

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Guizot

geb. 1782.

Thierry

Gapefigue

1773

geb. 1798.

Janin, Taillandier u. A.). Vor Allem verdienen die Revue des deux mondes und das Magazin pittoresque einer rühmlichen Erwähnung. In der Ge= schichtschreibung schritt man theils auf der durch Voltaire und Montesquieu begründeten Bahn des philosophischen Pragmatismus fort, indem einige, wie Franc. B. Guizot (,,Culturgeschichte Frankreichs im Mittelalter";,,Geschichte der eng- geb. 1787. lischen Revolution" u. a. W.), den historisch zusammengetragenen Stoff hauptsächlich dazu benußten, philosophische Ergebnisse und Ideen daraus zu ziehen; theils widmete man der Anordnung und Darstellung mehr Sorgfalt, wie Barante, der Verfasser Barante der Geschichte der Herzoge von Burgund" und der geistreichen,,Geschichte der franz. Literatur im 18. Jahrhundert“ und die Gebrüder Thierry (Augustin 8. anfangs Saint Simonist [§. 809], später erblindet,,,Geschichte der Eroberung Eng- geb. 1795. lands durch die Normannen"; ,,historische Briefe";,,Erzählungen aus den Zeiten der Merovinger" und Amédée Thierry,,,Geschichte der Gallier" u. a. W.), deren durch gründliche Forschungen über die Natur und Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Volksstämme unterstüßte genetische oder beschreibende Geschichtsbücher neue Anschauungsweisen hervorbrachten. Zu ihnen kann auch der vielschreibende Capefigue, der Verfasser mehrerer umfangreichen Werke aus der französischen geb. 1799. Geschichte, gerechnet werden. Die erzählende chronikartige Geschichtschreibung fand mehr fleißige als geistreiche Bearbeiter in Anquetil († 1808), Gallais und in dem Genfer Sismondi, welcher lettere, außer einer Geschichte Frankreichs Sismondi und der italienischen Republiken des Mittelalters, auch eine Lite 1850. raturgeschichte des Südens verfaßt hat. Jul. Michelet, der Verfasser einer Michelet weit verbreiteten Geschichte von Frankreich und in neuerer Zeit eifriger Demokrat und Jesuitenfeind, während er früher in einer Schrift über Luther die Reformation verdammt hatte, suchte den philosophischen Pragmatismus der ältern Schule mit der neuen mehr kunstmäßigen (descriptiven) Richtung zu verbinden. Eine gehaltvolle Schrift über den Krieg der Fronde rührt von dem Grafen St. Au- St. Aulaire her; und über die Literaturgeschichte haben Raynouard, Fauriel, Ampêre, Sainte-Beuve und besonders Ginguené († 1816,,,Literaturgeschichte von Italien") werthvolle Arbeiten geliefert und gründliche Forschungen angestellt. Mit besonderer Vorliebe aber wendete sich die französische Geschichtschreibung der Revolution und dem Kaiserreich zu. F. A. A. Mignet hat in einer gedrängten Mignet Darstellung dieser großen Geschichtsepoche mit logischem Geist und fatalistischer An- 8eb. 1796. schauung nachgewiesen, wie jede einzelne Erscheinung als nothwendige Folge voran= gegangener Ursachen unvermeidlich eintreten mußte, und Ad. Thiers hat sich durch Thiers feine ausführliche,,Geschichte der Revolution" den Weg zu der hohen Stel- geb. 1797 lung gebahnt, die er seit 1830 in Frankreich eingenommen hat. Seine spätere Geschichte des Consulats und des Kaiserreichs" ist, gleich Bignons diplomatischer Geschichte dieser Zeit, eine rhetorische Parteischrift voll französischer Ruhmredigkeit. Von den zahllosen ,,Denkwürdigkeiten" berühmter Männer und Frauen, welche eine beliebte Unterhaltungslectüre der Franzosen bilden und daher in wuchernder Menge zum Vorschein kommen, haben nur wenige literarischen. Werth, so reich auch manche an interessanten Einzelheiten und Begebenheiten sein mögen. Auch für diese Gattung ist die ruhmreiche Periode der Napoleonischen Herr= schaft eine ergiebige Quelle.

8. Die neuere Kunst.

§. 800. D. Die bildende Kunst. Auch die bildende Kunst nahm seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts einen bedeutenden Aufschwung und entfaltete ein reiches, vielseitiges Leben. Wie in der gesammten Literatur giebt sich auch in der Ma

laire

geb. 1779.

Roman

tische Kunst.

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lerei und Plastik das Streben kund, sich der Fesseln zu entledigen, womit ein starrer Regelzwang und die Macht der Convenienz und Mode den freien Flug der Phantafie so lange gehemmt hatte. Dieser Aufschwung ging hauptsächlich von Deutschland aus. Wir haben im Anhang" dargethan, wie zuerst Winckelmann und Lessing an der Hand der Antike neue Kunstanschauungen geweckt, neue Geseße der Aesthetik begründet, neue Ideale aufgestellt haben; wir haben angedeutet, welche Thätigkeit der kunstsinnige Goethe in allen Gebieten der schönen Kunstdarstellung hervorgerufen, wie belebend Schillers edler Geist auf alle idealen Richtungen und Bestrebungen eingewirkt, wie durch Heinse und noch erfolgreicher durch I. I. Roufseau auf die Natur als die echte Mutter und Lehrmeisterin aller Kunst hingewiesen und somit der Nachbildung der Antike ein frischer Naturalismus als erwärmender Gegensatz zur Seite gestellt worden. Diese mächtige Anregung verfehlte ihre Wirkung nicht bei einem nach Abwerfung ausgelebter Formen und nach freier Geistesthätigkeit so eifrig ringenden Geschlechte. Und so sehen wir denn aus verschiedenen Richtungen und Versuchen sich allmählich eine Kunstblüthe entwickeln, welche sich an die große Vergangenheit des 15. und 16. Jahrhunderts würdig anreiht, ja in der Mannichfaltigkeit der Gegenstände und in der Freiheit der Behandlung dieselbe übertrifft. Denn während jene ältere Kunst hauptsächlich im Dienste einer herrschenden Kirche stand, hat die neue, gereift unter der Einwirkung protestantischer Religionsbegriffe und getragen von einer umfassenden Weltbildung, das weite Gebiet der Geschichte zum Feld ihrer Thätigkeit gewählt und dabei das reiche Natur- und Volksleben in der ruhigen und aufgeregten Erscheinung zu idealen Kunstgebilden ausgebeutet: Dadurch traten der Historienmalerei die Landschaft und das Genre als ebenbürtige Gattungen zur Seite; in der Architektur ging man auf die antiken Vorbilder zurück und errichtete nach ihren Gefeßen und mit freier Anwendung ihrer harmenischen Linien, Formen und Säulenpracht großartige Bauwerke, die von dem kunstgeschichtlichen Bildungsstand des Zeitalters ein würdiges Zeugniß ablegten, und in der Bildnerei, die dem neuerwachten geschichtlichen Bewußtsein und Nationalgefühl der Völker einen kräftig wirkenden Ausdruck geben sollte, suchte man die antike Schönheit und Realität mit der modernen Geistes- und Gemüthswelt zu vereinigen.

Die Romantik, deren Ziele und Wirksamkeit der „Anhang“ (§. 96) darthut, bereicherte, wie das Leben und die Literatur, so auch die Kunst mit neuen Anregun= gen, Bestrebungen und Ideen; und wenn auch die Richtung im Ganzen und Allge= meinen als eine krankhafte Erscheinung, als ein Rückschritt in dem geistigen Bildungsgang bezeichnet werden muß, so hat sie doch auch ihre heilsamen Folgen gehabt: indem sie der klassischen Richtung einen Gegensatz aufstellte, hemmte sie die einseitige Exclusivität; die Wiederbelebung mittelalterlicher Ideen und Vorstellungen hatte neben der ungefunden Begeisterung und Hinneigung für ein abgestorbenes Kirchenthum und Ritterthum auch die Wirkung, daß der Sinn für die nationale Bergangenheit, für die vaterländische Geschichte geweckt wurde; daß man die heilige Geschichte und religiösen Traditionen wieder der Kunst zugänglich machte und neben den klaffischen Bauwerken auch gothische Kirchen errichtete oder ausbaute (Kölner Dom), alte Ritterburgen herstellte, altdeutsche Bilder und Gedichte sammelte. Aeußere Umstände kamen dieser Richtung fördernd entgegen:,,Es war die Zeit der Knechtschaft unter französischen Waffen, in der man im Gebiete des Geistes diejenige Freiheit zu suchen genöthigt ward, deren man nach Außen entbehrte, in der man sich an dem Glanze der Vorzeit wieder aufzurichten strebte und aus der geistigen Tiefe derselben Kraft und Stärke zum Widerstande in sich aufnahm." War es auch eine Verkehrtheit, wenn Friedr. Schlegel, Tieck u. A. in Raphael und Michel Angelo schon die Spuren des Verfalls erblickten und, die Verwirklichung ihrer Ideale in der Ber= gangenheit suchend, die Nachbildung der vom Geiste des Christenthums beseelten

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