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Staats- und sozialwissenschaftliche

Forschungen

herausgegeben

von

Gustav Schmoller und Max Sering.

Dreiundzwanzigster Band. Erstes Heft.

(Der ganzen Reihe 105. Heft.)

W. Claafsen, Die soziale Berufsgliederung des deutschen Volkes
nach Nahrungsquellen und Familien.

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Die

soziale Berufsgliederung des
deutschen Volkes

nach Nahrungsquellen und Familien.

Kritische Bearbeitung der deutschen Berufszählungen
von 1882 und 1895.

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Vorwort.

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„Die offizielle Statistik hat sich mit der Gruppe Geschlecht noch nicht befafst. Ihre Auffassung des Menschen als Naturwesen ist eine beinahe rein atomistische, Individuum auf Individuum in abstrakter Isolierung. Nur sehr unvollständig vermag sie die Verbindung der Individuen in der Familie festzuhalten 1." Dies Wort Fahlbecks kennzeichnet einen Grundmangel der amtlichen Statistik und damit der Grundlage empirischer Gesellschaftserforschung aller Länder. Eine Illustration der Richtigkeit dieses Wortes bildet nachfolgende Untersuchung. Sie enthält für die deutschen Berufszählungen den Nachweis, dafs dieser Grundmangel uns nicht nur einen wichtigen Teil des sozialen Lebens verhüllt, sondern auch zu falschen Schlüssen über den Teil des sozialen Lebens führt, den die Berufszählung uns zu enthüllen verspricht. Die gänzliche Ignorierung des Begriffs Familie" bewirkt die beiden Grundfehler, deren Kennzeichnung vor allem unsere Arbeit gewidmet ist, einmal die Koordinierung vorübergehend und dauernd Unselbständiger, und sodann die Rubrizierung von Mitgliedern der Familien Selbständiger als Ernährer von Mitgliedern der Familien Unselbständiger. Durch diese beiden Grundfehler wird sowohl das Bild der sozialen Volksgliederung im ganzen, als der wirklichen Nahrungsquellen der einzelnen sozialen Gruppen, erheblich verschoben. Diese Fehler sind den amtlichen Erhebungen anderer Staaten logisch im selben Grade wie der deutschen eigen. In jenen entfernt sich das Resultat gröfstenteils jedoch noch mehr von der Wirklichkeit, als in dieser, da die der deutschen Erhebung eigentümliche Ausführlichkeit fehlt. Insbesondere fehlt vielen Erhebungen des Auslandes die Einbeziehung der Erwerbslosen in die soziale Gliederung 2. Daher soll der Ruhm, die beste bisherige Berufszählung geschaffen zu haben, der amtlichen Statistik des Deutschen Reiches nicht bestritten werden. Es

1 Fahlbeck: Der Adel Schwedens. Eine demographische Studie. Jena 1903. S. 39.

2 Vgl. Zf. S. 262 ff. und unten § 46. S. 35 f.

ist vielmehr zu betonen, dafs nur dank ihrer Ausführlichkeit es möglich war, die Bedeutung des Unterschieds zwischen der organischen und der atomistischen Gesellschaftsauffassung zu zeigen. Die organische Auffassung lagerte gewissermalsen unter der Schwelle des Bewusstseins" der amtlichen Statistik.

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In atomistische Bahnen zu gleiten, ist nicht nur die Statistik, sondern das Denken der Zeit überhaupt geneigt. Die Gleichgültigkeit gegen die Tradition, gegen den Blutszusammenhang, das Geschlecht, ist so grofs, dafs sie die amtliche Statistik verhindert hat, selbst den gegenwärtig sichtbaren Teil der weiteren Blutsgemeinschaftsgruppe, des Geschlechts, d. i. die Familie, in den Bereich ihrer Erhebungen einzuschliefsen. Der einzelne Mensch, diese Abstraktion, die niemand mit eigenen Augen gesehen hat" 1, ist dieser Denkweise die einzige Wirklichkeit. Und doch ist den Tatsachen sozialer Bedingtheit entsprechend der Einzelne als solcher eine weit geringere Realität, denn als Mitglied seiner Blutsgemeinschaft, wie sehr auch das Bewusstsein dieser Gemeinschaft dem Individuum selbst entschwunden sein mag. Der Mensch als blofses Individuum bedeutet im Verhältnis zu dem ganzen Lebensprozefs seines Geschlechtes nicht mehr, als seine einzelne Handlung, sein einzelnes Erlebnis im Verhältnis zu seinem ganzen individuellen Leben bedeutet. Sein einzelnes、 Erlebnis ist nur der vorübergehende Schein seines individuellen Gesamtlebens, wie dieses Gesamtleben der vorübergehende Schein seines Geschlechtes ist. In der Atomisierung des Lebens geht denn auch die Statistik noch weiter herab als bis zum einzelnen Individuum, indem sie dieses stellenweise nicht einmal nach seinem Gesamtleben, sondern nur nach seiner zeitweiligen Erscheinung, d. i. nach einem vorübergehenden Komplex seiner Handlungen, bewertet. Diese weitere Fortsetzung atomistischen Denkens spiegelt sich im Begriff „Beruf" der amtlichen Statistik, die Beruf" und „Berufsstadium" gleichsetzt".

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Mit diesen Erörterungen haben wir versucht, die allgemeine psychische Disposition anzudeuten, in der die hier kritisierte Auffassung wurzelt. Nur diese in den allgemeinen Zeitverhältnissen so fest begründete Disposition erklärt den Schein unwiderstehlicher Wahrheit, der den amtlichen Zahlen über die soziale Volksgliederung innewohnt. Ist die atomistische Voraussetzung einmal gegeben und als berechtigtes Forschungsprinzip mit der Macht der Gewohnheit in das Denken eingedrungen, so folgt alles übrige daraus mit selbstverständlicher Konsequenz. Es erscheint erklärlich, dafs einem

1 Fahlbeck 1. c. S. 179.

2 Vgl. § 3 f. S. 4 f.

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