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Grammatiker fassen die mannichfaltigen deutschen Mundarten unter zwei Hauptmundarten zusammen, die oberdeutsche und die niederdeutsche, und unterscheiden beide gewissermaßen als Gegenfäße, indem sie diese Hauptmundarten so charakterisiren: daß die oberdeutsche Mundart mehr lange Vocale und Doppellaute, die niederdeutsche hingegen mehr kurze und einfache Vocale liebt; daß die oberdeutsche Mundart entschiedene Vorliebe für die aspirirten Consonanten (f, pf, ch, th) und für das sch, ß und z hat; daß das dem Oberdeutschen vorzüglich eigene Augment dem Niederdeutschen fast gänzlich fehlt; daß die oberdeutsche Mundart die tonlose Endung e abwirft, die sich in der niederdeutschen erhalten hat; daß die oberdeutsche Mundart die tonlosen Endungen mit dem Stamm gern in eine Silbe zusammenzieht und eine besondere Vorliebe. für die vollen halbtonigen Endungen (fam, bar, haft, heit, keit, ung, niß, sal) hat, welche für sich und besonders in der Flerion dem Worte einen weniger guten Rhythmus geben als die tonlosen Endungen, wie denn überhaupt die Wortformen der oberdeutschen Mundart weniger rhythmisch sind als die niederdeutschen. 1)

Diese allgemeinen grammatisch statuirten Unterscheidungen muß man gelten lassen, obwol der Polizeimann wenn auch Laie in der grammatischen Forschung sich sehr nach genauerer Unterscheidung und Bestimmtheit sehnt, wenn er, inmitten des über 3000 Quadratmeilen großen Sprachgebiets der von nahezu 16 Millionen Bewohnern 2) gesprochenen niederdeutschen Mundart,

1) Becker, a. a. D., S. 55.

2) Vgl. A. Marahrens,,,Grammatik der plattdeutschen Sprache. Zur Würdigung, zur Kunde des Charakters und zum richtigen Verständniß derselben" (Altona 1858), S. 9; sowie die sehr bedeutende Schrift von J. Wiggers, Grammatik der plattdeutschen Sprache. In Grundlage der mecklenburgisch)verpommerschen Mundart" (zweite Auflage, Hamburg 1858). Zu bedauern ist, daß der gewandte, scharfsinnige Verfasser auf dem einseitigen Boden der mecklenburzisch-vorpommerschen Mundart stehen geblieben und daher weder allverständlich noch erschöpfend ist. Die trefflichsten, wenn auch nur aphoristischen Bemerkungen über das Niederdeutsche hat noch immer der wackere Michael Nichey in seinem,, Idioticon Hamburgense" (Hamburg 1754), S. 375-404 unter

jahraus jahrein die eine Hälfte seiner zahlreichen Verhöre in niederdeutscher und die andere Hälfte in hochdeutscher Mundart abhalten muß, wobei er in den beiden,,Hauptmundarten“ von den verschiedensten Individuen recht mitten aus dem Volke die buntesten Variationen sowol der hochdeutschen als auch der niederdeuts schen Hauptmundart fast in erschöpfender Weise kennen lernt. Bei aller Tiefe, bei allem bewundernswürdigen Fleiße leidet doch wol die herrliche deutsche Gelehrsamkeit überhaupt an dem Fehler, daß sie bei weitem mehr liest und schreibt als hört und spricht. Die Wahrheit, daß alle Grammatik aus dem Volksmunde tönt, würde sonst zu lebendigerm, fruchtbarerm Bewußtsein gediehen und von größerm Einfluß auf die grammatische Forschung geworden sein. Wie die stille, lauschende Beobachtung des Volksgeistes und der Stamm-, Geschlechts-, Familien-, ja sogar der Individualitätsverschiedenheit die magische Situation ist, in welcher der mit dem Volksgeiste innig verbrüderte Geist der Geschichte in seinen tiefsten Offenbarungen dem Forscher erscheint: so ist das stille Lauschen auf den tönenden Volksmund eine wundervolle Offenbarung des Sprachgeistes, welcher als die leibliche Erscheinung des Volksgeistes hervortritt und im wunderbar verschiedenen Lautreichthum die ganze Fülle dieses Geistes als eines Volksgeistes darlegt. Wie das concrete Individuum durch seine Eristenz das Recht auf die Integrität seiner Individualität hat, so erkennt es auch das gleiche Recht der mit und neben ihm geschaffenen Individualitäten an, um mit ihnen und ihrer Gleichberechtigung fort zu eristiren, ohne die eigene concrete Individualität selbst aufzugeben oder jenen zu nehmen. So hat in gleicher Progression Familie, Geschlecht und Stamm die gleiche Eigenthümlichkeit und Berechtigung dazu, als mehr oder minder zahlreiche berechtigte Gruppe des einen Volkes zu eristiren und sich wiederum als größeres Einzelnes zum

der Rubrik: Versuch einer Dialectologia Hamburgensis, gegeben. Sie verdient unbedingt die vollste Beachtung und ist ein Zeugniß der genauesten Kenntniß, welche der unvergeßliche Richey von der niederdeutschen Sprache ge= habt hat.

Ganzen auszugleichen. Zu dieser Ausgleichung des sittlichen Lebens können die Stämme eines Volkes nicht gelangen, wenn sie nicht auch das erste und lebendigste Mittel des Verkehrs, ihre Stammessprache, gegeneinander ausgleichen und sich zu einer allen andern Stämmen verständlichen Sprache vereinigen, in welcher das Mundartige jedes Stammes theilweise zurücktritt, zur sogenannten Schriftsprache, oder, wie die Grammatiker sagen, zur Sprache der Bildung, welche die anerkannte Wahrheit der Sprache und das Organ des ganzen concentrirten Volksgeistes ist.

Sünftes Rapitel.

E. Die Hegemonie der Mundarten.

Die Sprache der Bildung ist eine gewordene, nicht eine natürliche Spracheinheit. Sie übt die Herrschaft über alle Stämme, so jedoch, daß jeder Stamm mit voller Freiheit seine besondere Mundart verlassen und der Sprache der Bildung sich bedienen kann, ohne darum die Eigenthümlichkeit seiner Mundart aufgeben zu müssen. Wie in der Geschichte jedes welthistorischen Volkes, so hat sich auch im deutschen beständig ein Dialekt als Führer der Sprache des Volkes geltend gemacht und wesentlich in seinen Lautverhältnissen den Volksgeist repräsentirt. Bei den Griechen sieht man den attischen, bei den Römern den urbanischen, bei den Italienern den florentinischen, bei den Spaniern den castilischen Dialekt die Hegemonie in der Sprache erringen und fortführen. Diese Hegemonie hatte stets ihre Zeit und ihren Wechsel, weil sie bedingt war durch den höhern Grad der Bildung und geistigen Gewalt des Stammes, dem der vortretende Dialekt eigenthümlich war, und nicht ohne bedeutenden Einfluß auf diese Hegemonie war ersichtlich die Bildung und Sprache der fürstlichen Höfe, an denen der Fürst die Intelligenz glücklich um sich zu versammeln und zu fördern wußte. So hat denn auch die Hegemonie der Dialekte außer der Geschichte der innern Herausbildung

immer auch ihre eigene politische und culturhistorische Geschichte, welche zur Beurtheilung der sprachlichen Erscheinungen von Interesse und Wichtigkeit ist, und so hat die allmählich nacheinander sich geltend machende Hegemonie des fränkischen, schwäbischen und sächsischen (meißnischen) Dialekts eine allseitig tiefe Bedeutsamkeit, während die Eintheilung der Sprache in das Althochdeutsche, Mittelhochdeutsche und Neuhochdeutsche wol nur in der chronologischen Abtheilung, ohne weitere tiefe Begründung, ihre charakteristische Bedeutsamkeit hat.

Sechstes Rapitel.

F. Die Gaunersprache.

Sieht man die deutschen Mundarten als Nebenflüsse mit natürlichem Gefälle in den einen großen Sprachstrom sich ergießen, welchem sie durch ihren reichen Zufluß eine immer mächtigere Bewegung verleihen: so findet auch der Forscher, welcher in die un terste Tiefe des Stroms zu tauchen unternimmt, auf tiefem Grunde die Bewegung eines von der Strömung getragenen bröckeligen, scharfen Gerölls und schlammiger Sprachstoffe, deren nähere Untersuchung so interessant wie ergiebig ist. Die Gaunersprache hat ihren Zufluß ebenfalls aus allen deutschen Mundarten. Indem sie als Sprache des Verbrechens, gleich der Sprache der Bildung, in Stoff und Form wesentlich als allgemeine deutsche Volkssprache gelten muß und im gemischten Zusammenfluß derselben einzigen großen Strömung folgt, gehen in der Gaunersprache doch die Mundarten in diese große Strömung nicht völlig auf. Vielmehr bewahrt jede Mundart in dieser Strömung mit Hartnäckigkeit eine Menge ihres eigenthümlichen mundartigen Stoffs, welcher freilich, im langen, mächtig bewegten Zuge von einer Stelle zur andern geführt, an scharfen Widerstand getrieben und wieder im trübften Schlamme fortgezogen, oft bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet wird, aber doch immer auf seine

mundartige Entstehung zurückzuführen ist. In diesem eigenthümlichen Zusammenfluß der entlegensten mundartigen Stoffe, welche einander die Spize bieten, um sich aneinander zu einem bröckeligen, lockern Gefüge abzustumpfen und zusammenzufallen, besteht das Charakteristische der Gaunersprache. Von der gewöhnlichen Verkehrssprache abgeschlossen, ist sie in dieser geheimnißvollen Abgeschlossenheit zur eigenthümlichen geheimen Sprache des verkappten Berbrechens geworden und hat zur Verstärkung des Geheimnisses auch mehr und minder willkommene erotische Sprachtypen in sich aufgenommen, je nach dem größern oder geringern Grad der Berührung und des Verkehrs mit den Trägern jener erotischen Sprachstoffe. Troß der buntesten mundartigen Durchmischung mit erotischen Sprachstoffen hat doch niemals die deutsche Gaunersprache aufgehört, durchaus deutsche Volkssprache zu sein. Sie ist zwar ein tiefes deutsches Sprachgeheimniß, aber immer nur ein in die deutsche Volkssprache versenktes Geheimniß, und daher immer ein auf einfache, natürliche Weise zu entzifferndes Räthsel, bei dessen Lösung ebenso häufig der Scharfsinn und die Frivolität wie die Natürlichkeit und Einfachheit der Zusammensetzung zu bewundern ist und welche daher immer das lebendigste Interesse gewährt.

Siebentes Rapitel.

1) Benennungen der Gaunersprache.

Die Gaunersprache ist allgemein die specifische Kunstsprache der Gauner zur Unterhaltung und Förderung des gegenseitigen Verständnisses und Verkehrs. Die Bezeichnung Gaunersprache 1) ist dem Gauner ebenso fremd und widerwärtig wie das Wort Gauner selbst und wie die hinlänglich deutliche Bezeichnung Spizbubensprache und Diebssprache. Auch der lahme

1) Vgl. die Etymologie des Wortes,,Gauner“, Th. I, Kap. 2, S. 5 fg.

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