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aus dem, welchen der Raum an der Möglichkeit der Erfahrung hat, das Beharren der Materie abzuleiten ist. Die eigentliche Begründung aller in diesem Sinn metaphysisch genannter Wahrheiten, d. h. abstrakter Ausdrücke der nothwendigen und allgemeinen Formen des Erkennens, kann nicht wieder in abstrakten Såhen liegen; sondern nur im unmittelbaren, sich durch apodiktische und keine Widerlegung besorgende Aussagen a priori kund gebenden Bewußtseyn der Formen des Vorstellens. Will man dennoch einen Beweis derselben geben, so kann dieser nur darin bestehn, daß man nachweist, in irgend einer nicht bezweifelten Wahrheit sei die zu beweisende schon als Theil oder als Voraussehung enthalten: so habe ich z. B. gezeigt, wie alle empirische Anschauung schon die Anwendung des Gesetzes der Kausalitåt enthält, dessen Erkenntniß daher Bedingung aller Erfahrung ist, und darum nicht erst durch diese gegeben und bedingt seyn kann, wie Hume behauptete. Beweise sind überhaupt weniger für die, welche lernen, als für die, welche disputiren wollen. Diese leugnen hartnäckig die unmittelbar begründete Einsicht: nur die Wahrheit kann nach allen Seiten konsequent seyn: man muß daher jenen zeigen, daß sie unter einer Gestalt und mittelbar zugeben, was sie unter einer andern Gestalt und unmittelbar leugnen, also den logisch nothwendigen Zusammenhang, zwischen dem Geleugneten und dem Zugestandenen.

Außerdem bringt aber auch die wissenschaftliche Form, nåmlich Unterordnung alles Besonderen unter ein Allgemeines und so immerfort aufwärts, es mit sich, daß die Wahrheit vieler Såge nur logisch begründet wird, nåmlich durch ihre Abhängigkeit von andern Såhen, also durch Schlüsse, die zugleich als Beweise auftreten. Man soll aber nie vergessen, daß diese ganze Form nur ein Erleichterungsmittel der Erkenntniß ist, nicht aber ein Mittel zu größerer Gewißheit. Es ist leichter, die Beschaffenheit eines Thieres aus der Gattung, zu der es gehört, und so · aufwärts aus dem Geschlecht, der Familie, der Ordnung zu erkennen, als das jedesmal gegebene Thier für sich zu untersuchen: aber die Wahrheit aller durch Schlüsse abgeleiteter Säße ist immer nur bedingt und zuleht abhängig von irgend einer, die nicht auf Schlüssen, sondern auf Anschauung beruht. Låge diese lehtere uns immer so nahe, wie die Ableitung durch einen Schluß, so

wäre sie durchaus vorzuziehn. Denn alle Ableitung aus Begrif fen ist, wegen des oben gezeigten mannigfaltigen Ineinandergreifens der Sphären, und der oft schwankenden Bestimmung ihres Inhalts, vielen Täuschungen ausgesetzt, wovon so viele Beweise falscher Lehren und Sophismen jeder Art Beispiele sind. Schlüsse sind zwar der Form nach völlig gewiß: allein sie sind sehr unsicher durch ihre Materie, die Begriffe, weil theils die Sphåren dieser oft nicht scharf genug bestimmt sind, theils sich so mannigfaltig durchschneiden, daß eine Sphäre theilweise in vielen andern enthalten ist, und man also willkührlich aus ihr in die eine oder die andre von diesen übergehn kann und von da wieder weiter, wie bereits dargestellt. Oder mit andern Worten: der terminus minor und auch der medius können immer verschiedenen Begriffen untergeordnet werden, aus denen man beliebig den terminus major und den medius wählt, wonach dann der Schluß verschieden ausfällt. Ueberall folglich ist unmittelbare Evidenz der bewiesenen Wahrheit weit vorzuziehn, und diese nur da anzunehmen, wo jene zu weit herzuholen wäre, nicht aber, wo sie eben so nahe oder gar nåher liegt, als diese. Daher sahen wir oben, daß in der That bei der Logik, wo die unmittelbare Erkenntniß uns in jedem einzelnen Fall nåher liegt, als die abgeleitete wissenschaftliche, wir unser Denken immer nur nach der unmittelbaren Erkenntniß der Denkgesehe leiten und die Logik unbenust lassen *).

§. 15.

Wenn wir nun mit unserer Ueberzeugung, daß die Anschauung die erste Quelle aller Evidenz, und die unmittelbare oder vermittelke Beziehung auf sie allein absolute Wahrheit ist, daß ferner der nächste Weg zu dieser stets der sicherste ist, da jede Vermittelung durch Begriffe vielen Täuschungen aussetzt; wenn wir, sage ich, mit dieser Ueberzeugung uns zur Mathematik wenden, wie sie vom Eukleides als Wissenschaft aufgestellt und bis auf den heutigen Tag im Ganzen geblieben ist; so können wir nicht umhin, den Weg, den sie geht, seltsam, ja

*) Hiezu Kap. 12 des zweiten Bandes.

verkehrt zu finden. Wir verlangen die Zurückführung jeder logischen Begründung auf eine anschauliche: sie hingegen ist mit gro ßer Mühe bestrebt, die ihr eigenthümliche, überall nahe, anschauliche Evidenz muthwillig zu verwerfen, um ihr eine logische zu substituiren. Wir müssen finden, daß das nicht anders ist, als wenn Jemand sich die Beine abschnitte, um mit Krücken zu gehn, oder als wenn der Prinz, im „Triumph der Empfindsamkeit," aus der wirklichen schönen Natur flieht, um sich an einer Theaterdekoration, die sie nachahmt, zu erfreuen. Ich muß hier an dasjenige erinnern, was ich im sechsten Kapitel der einleitenden Abhandlung gesagt habe, und sehe es als dem Leser in frischem Andenken und ganz gegenwärtig voraus; so daß ich hier meine Bemerkungen daran knüpfe, ohne von Neuem den Unterschied auseinanderzusehen zwischen dem bloßen Erkenntnißgrund einer mathematischen Wahrheit, der logisch gegeben werden kann, und dem Grunde des Seyns, welcher der unmittelbare, allein anschaulich zu erkennende Zusammenhang der Theile des Raums und der Zeit ist, die Einsicht in welchen allein wahre Befriedigung und gründliche Kenntniß gewährt, während der bloße Erkenntnißgrund stets auf der Oberfläche bleibt, und zwar ein Wissen, daß es so ist, aber keines, warum es so ist, geben kann. Eukleides gieng diesen lehtern Weg, zum offenbaren Nachtheil der Wissenschaft. Denn z. B. gleich Anfangs, wo er ein für alle Mal zeigen sollte, wie im Dreieck Winkel und Seiten sich gegenseitig bestimmen und Grund und Folge von einander sind, gemåß der Form, die der Sah vom Grund im bloßen Raume hat, und die dort, wie überall, die Nothwendigkeit giebt, daß Eines so ist, wie es ist, weil ein von ihm ganz verschiedenes Anderes so ist, wie es ist: statt so in das Wesen des Dreiecks eine gründliche Einsicht zu geben, stellt er einige abgerissene beliebig gewählte Säße über das Dreieck auf, und giebt einen logischen Erkenntnißgrund derselben, `durch einen mühsäligen, logisch, gemäß dem Sah des Widerspruchs geführten Beweis. Statt einer er schöpfenden Erkenntniß dieser räumlichen Verhältnisse, erhält man daher nur einige beliebig mitgetheilte Resultate aus ihnen, und ist in dem Fall, wie Jemand, dem die verschiedenen Wirkungen einer künstlichen Maschine gezeigt, ihr innerer Zusammenhang und Getriebe aber vorenthalten würde. Daß, was Eukleides demon

strirt, alles so sei, muß man, durch den Sah vom Widerspruch gezwungen, zugeben: warum es aber so ist, erfährt man nicht. Man hat daher fast die unbehagliche Empfindung, wie nach einem Taschenspielerstreich, und in der That sind einem solchen die meisten Eukleidischen Beweise auffallend ähnlich. Fast immer kommt die Wahrheit durch die Hinterthür herein, indem sie sich per accidens aus irgend einem Nebenumstand ergiebt. Oft schließt ein apagogischer Beweis alle Thüren, eine nach der andern, zu, und läßt nur die eine offen, in die man nun bloß deswegen hinein muß. Oft werden, wie im Pythagorischen Lehrsah, Linien gezogen, ohne daß man weiß warum: hinterher zeigt sich, daß es Schlingen waren, die sich unerwartet zuziehn und den Assensus des Lernenden gefangen nehmen, der nun verwun dert zugeben muß, was ihm seinem innern Zusammenhang nach völlig unbegreiflich bleibt, so sehr, daß er den ganzen Eukleides durchstudiren kann, ohne eigentliche Einsicht in die Gesetze der räumlichen Verhältnisse zu gewinnen, sondern statt ihrer nur einige Resultate aus ihnen auswendig lernt. Diese eigentlich empirische und unwissenschaftliche Erkenntniß gleicht der des Arztes, welcher Krankheit, und Mittel dagegen, aber nicht den Zusammenhang beider kennt. Dieses alles aber ist die Folge, wenn man die einer Erkenntnißart eigenthümliche Weise der Begründung und Evidenz grillenhaft abweist, und statt ihrer eine ihrem Wesen fremde gewaltsam einführt. Indessen verdient übrigens die Art, wie vom Eukleides dieses durchgesezt ist, allé Bewunderung, die ihm so viele Jahrhunderte hindurch geworden und so weit gegangen ist, daß man seine Behandlungsart der Mathematik für das Muster aller wissenschaftlichen Darstellung erklärte, nach der man sogar alle andern Wissenschaften zu modeln sich bemühte, spåter jedoch hievon zurückkam, ohne sehr zu wissen warum. In unsern Augen kann jene Methode des Eukleides in der Mathematik dennoch nur als eine sehr glänzende Verkehrtheit erscheinen. Nun läßt sich aber wohl immer von jeder großen, absichtlich und methodisch betriebenen, dazu vom allgemeinen Beifall begleiteten Verirrung, sie möge das Leben oder die Wissenschaft betreffen, der Grund nachweisen in der zu ihrer Zeit herrschenden Philosophie. Die Eleatiker zuerst hatten den Unterschied, ja öfteren Widerstreit entdeckt zwischen dem Angeschauten,

quivoμevov, und dem Gedachten, voovμɛvov *), und hatten ihn zu ihren Philosophemen, auch zu Sophismen, mannigfaltig benugt. Ihnen folgten fpåter Megariker, Dialektiker, Sophisten, Neu-Akademiker und Skeptiker: diese machten aufmerksam auf den Schein, d. i. auf die Täuschung der Sinne, oder vielmehr des ihre Data zur Anschauung umwandelnden Verstandes, welche uns oft Dinge sehn läßt, denen die Vernunft mit Sicherheit die Realität abspricht, z. B. den gebrochenen Stab im Wasser u. dgl. Man erkannte, daß der sinnlichen Anschauung nicht unbedingt zu trauen sei, und schloß voreilig, daß allein das vernünftige logische Denken Wahrheit begründe; obgleich Platon (im Parmenides), die Megariker, Pyrrhon und die Neu-Akademiker durch Beispiele (in der Art wie spåter Sertus Empirikus) zeigten, wie auch andrerseits Schlüsse und Begriffe irre führten, ja Paralogismen und Sophismen hervorbråchten, die unendlich leichter entstehn und unendlich schwerer zu lösen sind, als der Schein in der finnlichen Anschauung. Inzwischen behielt jener also im Gegensatz des Empirismus entstandene Nationalismus die Oberhand, und ihm gemäß bearbeitete Eukleides die Mathematik, also auf die anschauliche Evidenz (parvoμevov) bloß die Ariome nothgedrungen stüßend, alles Uebrige aber auf Schlüsse (voovμevov). Seine Methode blieb herrschend alle Jahrhunderte hindurch, und mußte es bleiben, so lange nicht die reine Anschauung a priori von der empirischen unterschieden wurde. Zwar scheint schon des Eukleides Kommentator Proklos jenen Unterschied völlig erkannt zu haben, wie die Stelle jenes Kommentators zeigt, welche Kepler in seinem Buche de harmonia mundi lateinisch übersezt hat: allein Proklos legte nicht genug Gewicht auf die Sache, stellte fie zu isolirt auf, blieb unbeachtet und drang nicht durch. Erst zwei tausend Jahre später daher, wird die Lehre Kants, welche so große Veränderungen in allem Wissen, Denken und Treiben der Europäischen Völker hervorzubringen bestimmt ist, auch in der Mathematik eine solche veranlassen. Denn erst nachdem wir von diesem großen Geiste gelernt haben, daß die Anschauungen des Raumes und der Zeit von der empirischen gänzlich verschie

*) An Kants Misbrauch dieser Griechischen Ausdrücke, der im Anhang gerügt ist, darf hier gar nicht gedacht werden.

Schopenhauer, Die Welt. I.

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