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rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldigen uns hier vorge= führt werden: denn hierin liegt ein bedeutsamer Wink über die Beschaffenheit der Welt und des Daseyns. Es ist der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Objektitåt, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt. Am Leiden der Menschheit wird er sichtbar, welches nun herbeigeführt wird, theils durch Zufall und Irrthum, die als Beherrscher der Welt, und durch ihre bis zum Schein der Absichtlichkeit gehende Tücke als Schicksal personifizirt, auftreten; theils geht er aus der Menschheit selbst hervor, durch die sich kreuzenden Willensbestrebungen der Individuen, durch die Bosheit und Verkehrtheit der Meisten. Ein und derselbe Wille ist es, der in ihnen allen lebt und erscheint, dessen Erscheinungen aber sich selbst bekämpfen und sich selbst zerfleischen. In diesem Individuo tritt er gewaltig, in jenem schwächer hervor, hier mehr, dort minder zur Besinnung gebracht und gemildert durch das Licht der Erkenntniß, bis endlich, im Einzelnen, diese Erkenntniß, geläutert und gesteigert durch das Leiden selbst, den Punkt erreicht, wo die Erscheinung, der Schleier der Maja, sie nicht mehr täuscht, die Form der Erscheinung, das principium individuationis, von ihr durchschaut wird, der auf diesem beruhende Egoismus eben damit erstirbt, wodurch nunmehr die vorhin so gewaltigen Motive ihre Macht verlieren, und statt ihrer die vollkommene Erkenntniß des Wesens der Welt, als, Quietiv des Willens wirkend, die Resignation herbeiführt, das Aufgeben, nicht bloß des Lebens, sondern des ganzen Willens zum Leben selbst. So sehn wir im Trauerspiel zuleht die Edelsten, nach langem Kampf und Leiden, den Zwecken, die sie bis dahin so heftig verfolgten, und allen den Genüssen des Lebens auf immer entsagen, oder es selbst willig und freudig aufgeben: so den standhaften Prinzen des Calderon; so das Gretchen im Faust; so den Hamlet, dem sein Horatio willig folgen möchte, welchen aber jener bleiben und noch eine Weile in dieser rauhen Welt mit Schmerzen athmen heißt, um Hamlets Schicksal aufzuklären und dessen Andenken zu reinigen; so auch die Jungfrau von Orleans; die Braut von Messina: sie alle sterben durch Leiden geläutert, d. h. nachdem der Wille zu leben zuvor in ihnen erstorben ist: im Mohammed von Voltaire spricht sich Dieses sogar wörtlich aus in den Schluß

worten, welche die sterbende Palmira dem Mohammed zuruft: ,,die Welt ist für Tyrannen: Lebe Du!"

Die Behandlungsart des Trauerspiels nåher betreffend, will ich mir nur eine Bemerkung erlauben. Darstellung eines großen Unglücks ist dem Trauerspiel allein wesentlich. Die vielen verschiedenen Wege aber, auf welchen es vom Dichter herbeigeführt wird, lassen sich unter drei Artbegriffe bringen. Es kann nämlich geschehn durch außerordentliche, an die äußersten Gränzen der Möglichkeit streifende Bosheit eines Charakters, welcher der Urheber des Unglücks wird: Beispiele dieser Art find: Richard der dritte, Jago im Othello, Shylok im Kaufmann von Venedig, Franz Moor, Phädra des Euripides, Kreon in der Antigone, u. dgl. m. Es kann ferner geschehn durch blindes Schicksal, d. i. Zufall und Irrthum: von dieser Art ist ein wahres Muster der König Dedipus des Sophokles, auch die Trachinerinnen, und überhaupt gehören die meisten Tragödien der Alten hieher: unter den Neuern find Beispiele: Romeo und Juliet, Tankred von Voltaire, die Braut von Messina. Das Unglück kann aber endlich auch herbeigeführt werden durch die bloße Stellung der Personen gegen einander, durch ihre Verhältnisse, so daß es weder eines ungeheuren Irrthums, oder eines unerhörten Zufalls, noch auch eines die Gränzen der Menschheit im Bösen erreichenden Charak ters bedarf; sondern Charaktere wie sie in moralischer Hinsicht gewöhnlich sind, unter Umstånden, wie sie häufig eintreten, sind so gegen einander gestellt, daß ihre Lage sie zwingt, sich gegen: scitig, wissend und sehend, das größte Unheil zu bereiten, ohne daß dabei das Unrecht auf irgend einer Seite ganz allein sei. Diese lettere Art scheint mir den beiden andern weit vorzuziehn: denn sie zeigt uns das größte Unglück nicht als eine Ausnahme nicht als etwas durch seltene Umstände oder monstrose Charaktere Herbeigeführtes; sondern als etwas aus dem Thun und den Cha rakteren der Menschen leicht und von selbst, fast als wesentlich Hervorgehendes, und führt es eben dadurch furchtbar nahe an uns heran. Und wenn wir in den beiden andern Arten das ungeheure Schicksal und die entseßliche Bosheit als schreckliche, aber nur aus großer Ferne von uns drohende Mächte erblicken, denen wir selbst wohl entgehn dürften, ohne zur Entsagung zu flüchten; so zeigt uns die lehte Gattung jene Glück und Leben zerstörenden

Mächte von der Art, daß auch zu uns ihnen der Weg jeden Augenblick offen steht, und das größte Leiden herbeigeführt durch Verflechtungen, deren Wesentliches auch unser Schicksal annehmen könnte, und durch Handlungen, die auch wir vielleicht zu begehn fähig wären und also nicht über Unrecht klagen dürften: dann fühlen wir schaudernd uns schon mitten in der Hölle. Die Ausführung in dieser leßtern Art hat aber auch die größte Schwierigkeit; da man darin mit dem geringsten Aufwand von Mitteln und Bewegungsursachen, bloß durch ihre Stellung und Vertheilung die größte Wirkung hervorzubringen hat: daher ist selbst in vielen der besten Trauerspiele diese Schwierigkeit umgangen. Als ein vollkommnes Muster dieser Art ist jedoch ein Stück anzuführen, welches von mehreren andern desselben großen Meisters in andrer Hinsicht weit übertroffen wird: es ist Klavigo. Hamlet gehört gewissermaaßen hierher, wenn man nämlich bloß auf sein Verhältniß zum Laertes und zur Ophelia sieht: auch hat Wallenstein diesen Vorzug: Faust ist ganz dieser Art, wenn man bloß die Begebenheit mit dem Gretchen und ihrem Bruder, als die Haupthandlung betrachtet; ebenfalls der Eid des Corneille, nur daß diesem der tragische Ausgang fehlt, wie ihn hingegen das analoge Verhältniß des Mar zur Thekla_hat *).

§. 52.

Nachdem wir nun im Bisherigen alle schönen Künste, in derjenigen Allgemeinheit, die unserm Standpunkt angemessen ist, betrachtet haben, anfangend von der schönen Baukunst, deren Zweck als solcher die Verdeutlichung der Objektivation des Willens auf der niedrigsten Stufe feiner Sichtbarkeit ist, wo er sich als dumpfes, erkenntnißloses, gesetzmäßiges Streben der Masse zeigt und doch schon Selbstentzweiung und Kampf offenbart, nämlich zwischen Schwere und Starrheit; - und unsre Betrachtung be schließend mit dem Trauerspiel, welches, auf der höchsten Stufe der Objektivation des Willens, eben jenen seinen Zwiespalt mit sich selbst, in furchtbarer Größe und Deutlichkeit uns vor die Augen bringt; so finden wir; daß dennoch eine schöne Kunst von

*) Hiezu Kap. 37 des zweiten Bandes.' Schopenhauer, Die Welt. I.

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unsrer Betrachtung ausgeschlossen geblieben ist und bleiben mußte, da im systematischen Zusammenhang unsrer Darstellung gar keine Stelle für sie passend war: es ist die Musik. Sie steht ganz abgesondert von allen andern. Wir erkennen in ihr nicht die Nachbildung, Wiederholung irgend einer Idee der Wesen in der Welt: dennoch ist sie eine so große und überaus herrliche Kunst, wirkt so mächtig auf das Innerste des Menschen, wird dort so ganz und so tief von ihm verstanden als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft; daß wir gewiß mehr in ihr zu suchen haben, als ein exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi, wofür sie Leibniz ansprach *) und dennoch ganz Recht hatte, sofern er nur ihre unmittelbare und äußere Bedeutung, ihre Schaale betrachtete. Wåre fie jedoch nichts weiter, so müßte die Befriedigung, die sie erregt, der ähnlich seyn, die wir beim richtigen Aufgehn eines Rechnungserempels empfinden, und könnte nicht jene innige Freude seyn, mit der wir das tiefste Innere unsers Wesens zur Sprache gebracht sehn. Auf unserm Standpunkt daher, wo die ästhetische Wirkung unser Augenmerk ist, müssen wir ihr eine viel ernstere und tiefere, sich auf das innerste Wesen der Welt und unsers Selbst beziehende Bedeutung zuer: kennen, in Hinsicht auf welche die Zahlenverhältnisse, in die sie sich auflösen läßt, sich nicht als das Bezeichnete, sondern selbst erst als das Zeichen verhalten. Daß sie zur Welt, in irgend ei nem Sinn, sich wie Darstellung zum Dargestellten, wie Nachbild zum Vorbild verhalten muß, können wir aus der Analogie mit den übrigen Künsten schließen, denen allen dieser Charakter eigen ist, und mit deren Wirkung auf uns die ihrige im Ganzen gleichartig, nur stårker, schneller, nothwendiger, unfehlbarer ist. Auch muß jene ihre nachbildliche Beziehung zur Welt eine sehr innige, unendlich wahre und richtig treffende seyn, weil sie von Jedem augenblicklich verstanden wird und eine gewisse Unfehlbarkeit dadurch zu erkennen giebt, daß ihre Form sich auf ganz bestimmte, in Zahlen auszudrückende Regeln zurückführen läßt, von denen sie gar nicht abweichen kann, ohne gänzlich aufzuhören Musik zu seyn. - Dennoch liegt der Vergleichungspunkt zwischen der Musik

*) Leibnitii epistolae, collectio Kortholti: ep. 154.

und der Welt, die Hinsicht, in welcher jene zu dieser im Verhältniß der Nachahmung oder Wiederholung steht, sehr tief verborgen. Man hat die Musik zu allen Zeiten geübt, ohne hierüber sich Rechenschaft geben zu können: zufrieden, sie unmittelbar zu verstehn, thut man Verzicht auf ein abstraktes Begreifen dieses unmittelbaren Verstehns selbst.

Indem ich meinen Geist dem Eindruck der Tonkunst, in ih ren mannigfaltigen Formen, gänzlich hingab, und dann wieder zur Reflexion und zu dem in gegenwärtiger Schrift dargelegten Gange meiner Gedanken zurückkehrte, ward mir ein Aufschluß über ihr inneres Wesen und über die Art ihres, der Analogie nach nothwendig vorauszusetzenden, nachbildlichen Verhältnisses zur Welt, welcher mir selbst zwar völlig genügend und für mein Forschen befriedigend ist, auch wohl Demjenigen, der mir bisher gefolgt wåre und meiner Ansicht der Welt beigestimmt håtte, eben so einleuchtend seyn wird, welchen Aufschluß jedoch zu beweisen, ich für wesentlich unmöglich erkenne, da er ein Verhältniß der Musik, als einer Vorstellung, zu Dem, was wesentlich nie Vorstellung seyn kann, annimmt und festseßt, und die Musik als Nachbild eines Vorbildes, welches selbst nie unmittelbar vorgestellt werden kann, angesehn haben will. Ich kann deshalb nichts weiter thun, als hier am Schlusse dieses der Betrachtung der Künste hauptsächlich gewidmeten dritten Buches, jenen mir genůgenden Aufschluß über die wunderbare Kunst der Töne vortragen, und muß die Beistimmung oder Verneinung meiner Ansicht der Wirkung anheimstellen, welche auf jeden Leser theils die Musik, theils der ganze und eine von mir in dieser Schrift mitgetheilte Gedanke hat. Ueberdies halte ich es, um der hier zu gebenden Darstellung der Bedeutung der Musik mit achter Ueberzeugung seinen Beifall geben zu können, für nothwendig, daß man oft mit anhaltender Reflexion auf dieselbe der Musik zuhóre, und hiezu wieder ist erforderlich, daß man mit dem ganzen von mir dargestellten Gedanken schon sehr vertraut sei.

Die adäquate Objektivation des Willens sind die Ideen: die Erkenntniß dieser durch Darstellung einzelner Dinge (denn solche sind die Kunstwerke selbst doch immer)`anzuregen (welches nur unter einer diesem entsprechenden Veränderung im erkennenden Subjekt möglich ist), ist der Zweck aller andern Künste.

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