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ÜBER DAS

GEDÄCHTNISS

ALS EINE

ALLGEMEINE FUNCTION DER ORGANISIRTEN MATERIE.

VORTRAG

GEHALTEN IN DER FEIERLICHEN SITZUNG DER KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

AM XXX. MAI MDCCCLXX

VON

EWALD HERING,

WIRKLICHEM MITGLIEDE DER KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

Wenn der Naturforscher die Werkstätte seiner begrenzten Sonderforschungen verläßt und eine Wanderung in's weite Reich philosophischer Betrachtungen wagt, wo er die Lösung jener großen Räthsel zu finden hofft, um derentwillen er der Lösung der kleinen seine Tage widmet, so. begleiten ihn die geheimen Befürchtungen derer, die er am Arbeitstische der Specialuntersuchung zurückläßt, und empfängt ihn das berechtigte Mißtrauen jener, die er als Eingeborne im Reiche der Speculation begrüßt. So steht er in Gefahr, bei Ersteren zu verlieren, und bei Letzteren nicht zu gewinnen.

Der Gegenstand, für dessen Behandlung in dieser festlichen Stunde ich mir Ihre geneigte Aufmerksamkeit erbitte, lockt auch in jenes vielverheißende Land; aber, eingedenk des Gesagten, will ich das naturwissenschaftliche Gebiet, dem meine Thätigkeit gewidmet ist, nicht verlassen; nur seine Höhen will ich zu gewinnen suchen, um freiere Umschau halten zu können.

Und da es im Verlaufe des Folgenden leicht scheinen könnte, als würde ich diesem Vorsatze untreu, weil meine Betrachtungen in's Gebiet der Psychologie hinübergreifen werden, so sei es zunächst gestattet, anzugeben, in wie weit psychologische Untersuchungen ein nicht nur erlaubtes, sondern sogar unentbehrliches Hilfsmittel der physiologischen Forschung bilden.

Mit dem thierischen oder menschlichen Organismus und seinem materiellen Getriebe, das zu erforschen die Physiologie sich abmüht, ist zugleich ein Bewußtsein gegeben, und während die Atome des Gehirns nach festem Gesetze die Bahnen ihrer Bewegung suchen, webt sich aus Empfindung und Vorstellung, aus Gefühl und Wille das innere Leben.

Jeder findet es in sich selbst, es leuchtet ihm entgegen aus der lebendigen Gestalt des Anderen, es klingt hervor aus dem Treiben des höher organisirten Thieres, selbst das einfachste Wesen trägt noch seine Spur, und wer vermöchte zu sagen, wo die Grenzen der Beseelung im Reiche des Organischen gezogen sind?

Wie hat sich die Physiologie diesem Doppelleben der organischen Welt gegenüber zu verhalten? Soll sie der einen Seite desselben ganz ihr Auge verschließen, um desto schärfer die andere zu erfassen ?

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So lange der Physiolog nur Physiker ist und ich gebrauche hier das Wort Physik in seiner umfassendsten Bedeutung steht er der organischen Welt gegenüber auf dem Standpunkte einer bis auf's Äußerste getriebenen, aber durchaus berechtigten Einseitigkeit. Wie dem Mineralogen der Krystall, dem Akustiker die schwingende Saite, so ist aus diesem Standpunkte dem Physiologen auch das Thier, der Mensch nichts weiter, als ein Stück Materie. Daß das Thier Lust und Schmerz empfindet, daß an die materiellen Geschicke der menschlichen Gestalt sich die Freuden und Leiden eines Gemüthes und das rege Vorstellungsleben eines Bewußtseins knüpfen; das kann den thierischen und menschlichen Leib für den Physiker nicht zu etwas Anderen machen, als was er ist: ein Stoffcomplex, unterworfen den durch Nichts zu beugenden Gesetzen, welchen auch die Masse des Steines, die Substanz der Pflanze folgt, ein Stoffcomplex, dessen äußere und innere

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