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Figur in einem grossen Krankheitsgemälde, zu dem jetzt eine allgemeine Idee den Grundton abgiebt. So werden wir von der Betrachtung des Einzelnen aus auf eine allgemeinere Fassung hingetrieben. Denn wenn wir in einer Masse von einzelnen Fällen dieselben Züge wieder erkennen, wenn die ausschweifende Phantasie Vieler sich trotz der individuellen Zuthaten immer und immer wieder in dieselben Schemata hineindrängt, so liegt darin auch die Nöthigung, diese allgemeinen, immer wiederkehrenden Gedankenkreise mit in das Bereich der Betrachtung zu ziehen. Die medicinische Beobachtung lehrt uns, dass bestimmte Vorstellungen solche Gewalt auf den Organismus ausüben, dass sie Erscheinungen des gestörten Hirnlebens hervorbringen können, dass sie Sinnestäuschungen erzeugen, dass die Aufregung des Gehirns Störungen in der Thätigkeit des Rückenmarkes, als: Krämpfe u. s. w. hervorruft. Diese allgemeinen Gedankenkreise müssen also in der Weise der Untersuchung unterworfen werden, dass wir wo möglich nachweisen, wie sie überhaupt in sich die Keime zum Wahnsinn tragen, wie ihre rein abstracte Beschaffenheit in ihrer Hineinwirkung in die menschliche Seele diese wahnsinnig machen kann.

Ohne nun diesen Ansichten, die wir grösstentheils mit den eigenen Worten ihres Vf.'s wiedergegeben haben, ihr Verdienst schmälern zu wollen, vielmehr anerkennend, dass die Gesichtspunkte, welche er zur Beurtheilung des Gegenstandes besonders hervorgehoben hat, alle Berücksichtigung verdienen und dem psychischen Arzte als leitende Momente dienen können, müssen wir doch gestehen, dass sie uns der Erklärung jener wunderbaren Erscheinungen des socialen Wahnsinns nicht näher zu führen scheinen. Das Ganze bleibt uns eben so räthselhaft als zuvor. Denn dass ein Individuum, welches sich vorzugsweise den herrschenden Ideen seiner Zeit hingiebt, in die damals herrschenden Träumereien und Schwärmereien auf's engste verflochten ist, von Wahnsinn ergriffen wird, begreift sich wohl, ja, wie der Vf. selbst anführt, drücken die verschiedenen religiösen, philosophischen, politischen Ansichten eines Volkes diesem Wahnsinn häufig ihren besonderen Typus auf, allein wie sich ein solcher Wahnsinn ganzen Corporationen mittheilen kann, ist damit noch nicht erklärt.,,So schwebten nach der ersten Revolution in Frankreich den Unglücklichen, die während der Schreckensregierung den Verstand verloren hatten, noch immer

die blutigen Greuel vor den Augen; unter Napoleon commandirten die Wahnsinnigen ihre Armeen, rühmten sich ihrer Trophäen und waren stolz, die Erde mit dem Klang ihres Namens zu erfüllen; als Napoleon besiegt wurde, kam die Furcht vor den Kosaken in die Irrenhäuser u. s. w." Dies waren indess immer nur Einzelne, die, neben einer individuellen Disposition zum Wahnsinn überhaupt, von der Gewalt der allgemein herrschenden Vorstellungen mit fortgerissen wurden. Von einem epidemischen Auftreten dieser Krankheit unter jenen Bedingungen ist uns jedoch nichts zu Gehör gekommen, obschon die damals herrschenden Zeitideen nicht weniger tiefe Wurzeln im Volke geschlagen haben dürften, als früher der Glaube an Dämonen, Hexen, Wehrwölfe u. s. w. Wir sehen hieraus, dass aus der organischen Disposition im Verein mit der Betheiligung an den schwebenden Zeitideen allein die Entstehung des socialen Wahnsinns nicht erklärt werden könne, und es müssen hier noch Momente wirksam seyn, die uns weder unsere Kenntnisse vom Seelenleben noch von der Culturgeschichte der Völker aufzuschliessen im Stande sind.

Es liegt nahe, hier an eine geistige Ansteckung zu denken, und der Vf. selbst bedient sich dieses Wortes, ohne indess näher darauf einzugehen, welchen Begriff er damit verbindet. An eine Uebertragung der Krankheit durch Contagium im gewöhnlichen Sinne ist einmal nicht zu denken; denn ist es auch bis jetzt noch nicht gelungen, ein solches isolirt darzustellen, so ist es doch gewiss, dass es mit organischen Stoffen verbunden, von einem organischen Körper zum andern übertragen werden kann, ja übertragen werden muss, um in diesem die gleiche Krankheit zu erzeugen. Von einer solchen stofflichen Mittheilung kann aber bei geistigen Zuständen keine Rede seyn. Es bleibt daher nur übrig, eine sympathische Erregung von Seite des Geistes oder Gemüths in gleichgestimmten Seelen anzunehmen. Allerdings sprechen dafür schon Thatsachen des gewöhnlichen Lebens. Die Vorstellung einer Bewegung, die wir an einem Anderen wahrnehmen, ruft in uns eine Tendenz zu der gleichen Bewegung in dem ihr dienenden Muskelapparate hervor. Ein Gähnender, ein Lachender steckt Mehrere an. Joh. Müller beobachtete, dass die Zuschauer von Fechtspielen oder Duellen die Streiche mit leisen unwillkührlichen Bewegungen ihres Körpers begleiten. Allein die Geschichte solcher Epi

demien belehrt uns, dass die Krankheit bei dem Einzelnen keinesweges immer von dem Anschauen eines anderen von der geistigen und leiblichen Störung Behafteten ihren Ausgang bnahm. Jene Convulsionäre am Grabe des heil. Pâris in Paris wurden von Convulsionen befallen, nachdem sie nur das Grab besucht, ja, ehe sie nur die Erde jenes Grabes berührt hatten. Selbst ein seit der Geburt taubstummes Mädchen, auf den Kirchhof gebracht und auf das Grab gesetzt, verfiel in heftige Krämpfe, die sich jedesmal wiederholten, so oft man sie auf das Grab trug. Hier fällt demnach jede sympathische Erregung mittelst des Gesichtssinnes weg. - Während der unter den Calvinisten in den Jahren 1686-1707 im Dauphiné, Vivarais und in den Cevennen herrschenden Epidemie wurden nach Jaques Dubois's Zeugniss wohl an sechzig Kinder im Alter von 3—12 Jahren von der Krankheit befallen, bei denen man doch unmöglich weder eine Theilnahme an den damals herrschenden religiösen Spaltungen, noch eine Uebertragung durch Sinneneindrücke annehmen kann.

Ferner lehrt uns die Geschichte, dass Menschen mit in den Kreis der krankhaften Erscheinungen hineingerissen, wurden, die an dem religiösen Zwiespalt gar keinen Antheil nahmen, ja sogar einer entgegengesetzten Ansicht zugethan waren, als diejenigen, von denen der Impuls zur epidemischen Krankheit ausging. In der oben erwähnten Epidemie im Dauphiné u. s. w. hatte der Zustand der Calvinisten unter den Katholiken zuerst nur Gespött erregt, aber bald stahl sich das Gift der Theomanie auch unter sie. Die drei Söhne eines katholischen Pfarrers bei Anduze fingen an zu prophezeien und nahmen Theil an den Versammlungen der Fanatiker. Die Kinder des Richters zu Vigan, der die Calvinisten mit grossem Eifer verfolgte, überkam der heilige Geist. Unter den Calvinisten selbst wurden zuweilen diejenigen plötzlich von Convulsionen befallen, die noch kurz vorher über die Verdrehungen ihrer Glaubensgenossen gelacht und gespottet hatten. - Auch am Grabe des h. Pâris unterlagen Müssigänger, die durch die Neuheit des Schauspiels angelockt, die Volksmasse vermehrten, Gläubige und Zweifler, ohne Unterschied dem wunderbaren Einfluss, ein Beweis, dass das wichtigste Moment zur Erzeugung von dergleichen Krankheiten, die durch die allgemeine Seelenstimmung gegebene Disposition, dazu nicht immer erforderlich

war.

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or Endlich kommen in manchen dieser Epidemien Erscheinungen vor, die durchaus nicht auf ein sympathisches Verhältniss in der oben bezeichneten Weise zurückgeführt werden können. Wie der Anblick der Convulsionen, die bei einer Nonne ausbrachen, auch das gleiche Uebel in anderen hervorrufen konnte, lässt sich nach dem Gesetze der Sympathie einsehn, nicht aber, wie bei den Nonnen in der Grafschaft Hoorn (1551), die Mehrzahl eine schwarze Flüssigkeit ausbrach, die so scharf und bitter war, dass sich die Epidermis der Zunge und der Lippen loslöste, oder wie die Nonnen im Kloster Kentorp (1552) über eine brennende Empfindung auf der planta pedis klagten, als wenn man kochendes Wasser darauf gegossen hätte. Ebenso unerklärlich sind manche Erscheinungen, wie sie bei manchen Convulsionärs am Grabe des heil. Pâris vorkamen. Sie liessen sich mittelst Holzkloben mit der grössten Gewalt schlagen, Steine von ungeheurer Grösse auf den Magen werfen, so dass man hätte glauben müssen, der ganze Körper würde zerschmettert werden; Bretter über ihren Leib legen, auf welchen eine Menge Menschen, bis an zwanzig Personen, herumstampfen mussten, um zu beweisen, dass Gott in seiner Gnade sie unverwundbar und unempfindlich gemacht habe. Je stärker die Schläge auf ihren Leib dröhnten, desto mehr Linderung ihrer krampfhaften Beschwerden meinten sie zu empfinden. Es mussten oft die kräftigsten Männer ausgesucht werden, man musste Eichenkloben, so gross wie Keulen nehmen und eiserne Stangen, weil sie von schwachen, mit gewöhnlicher Manneskraft geführten Schlägen nicht im geringsten befriedigt wurden. Die Sache würde unglaublich erscheinen, wenn nicht ganz Paris damals Zeuge gewesen und die einzelnen Facta von sehr vielen Beobachtern bestätigt würden." Dergleichen Erscheinungen können aber eben so wenig auf eine sympathische Uebertragung, als auf Nachahmung zurückgeführt werden, und wenn sie Calmeil durch die Annahme eines somnambulen Zustandes erklären will, so lässt sich zwar nicht abläugnen, dass dieser sich von einem Individuum auf das andere übertragen könne, allein es bleibt dabei immer noch zu enträthseln übrig, wie dieser somnambule Zustand bei Vielen unter der gleichen Form und mit derselben Unempfindlichkeit und Unverletzlichkeit auftreten konnte. Eben so wenig reicht aber jeder andere Versuch zur Erklärung dieser merkwürdigen Erscheinungen aus. Sie stehen als physiologische

und psychologische Wunder da, und weisen auf eine noch unverschlossene und geheime Verbindung der menschlichen Seelen hin, von der sich zwar schwache Analoga im gewöhnlichen Leben der Menschen auffinden, die sich aber auf dem jetzigen Standpunkte unseres physiologischen und psychologischen Wissens nicht deuten lassen.

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Mit Recht macht Hr. Leubuscher darauf aufmerksam, dass Schwärmerei und Irrthum kein Wahnsinn sey; dass grosse Ideen die Kraft haben, die Gemüther ganzer Völker in eine schwärmerische Spannung zu versetzen, die durch ganze Generationen sich forterbe und nachklinge, und dass endlich der Schwung und die Begeisterung, welche solche Ideen erwecken, die geistige Natur zu einer höheren Entwickelung bringen; während aber im Ganzen die höhere Bildungsstufe deutlich in die Augen springe, oft dem Einzelnen das Grosse der neuen Idee nur in einer dunkeln Ahnung vor dem Bewusstseyn schwebe, und der von ihr für das Individuum gegebene Impuls dunkle und geheimnissvolle Anklänge in die Seele bringe, die zum Verkennen des Wirklichen führen.9- Nun müssen wir zwar anerkennen, dass auf diese Weise auch eine grosse Idee die Veranlassung zum Wahnsinn bei Individuen werden könne, denen sie nicht verständlich ist, die in ihrer Schwärmerei darüber zu extremen Ansichten und Vorstellungen getrieben werden. Aber giebt es nicht auch Ideen, die vom Hause aus das Gepräge des Wahnsinns an sich tragen; die irgend ein Individuum unter die Menge schleudert und von dieser begierig aufgenommen, sich von Mann zu Mann fortpflanzt? Müssen wir da nicht unterscheiden zwischen Schwärmerei für das Edle, Grosse, und zwischen einer solchen für irgend einen verrückten Gedanken, der in anderen, gerade dafür Empfänglichen, zeugend fortwirkt?

Es würde uns zu weit führen, wollten wir die einzelnen Abschnitte des Buches einer besonderen Besprechung unterwerfen; es mag daher genügen, die verschiedenen Erscheinungen des socialen socialen Wahnsinns, wie sie der Vf. in der Geschichte der vier letzten Jahrhunderte zusammengestellt hat, hier übersichtlich aufzuführen.

Das funfzehnte Jahrhundert bietet uns die Theomanie der Johanne d'Arc, die Mordmonomanie und Anthropophagie der Waldenser, das epidemische

Vorkommen des Teufelswahns in Artois; die Anthropophagie in Deutschland 1484 - 1500, die Dämonopathie der Nonnen in Cambrai (Johanne Pothiere wird ins Gefängniss geworfen). Das sechzehnte Jahrhundert giebt uns zuerst Veranlassung, die Ansichten der Schriftsteller der damaligen Zeit zu besprechen. Hierauf folgt: der Teufelswahn epidemisch in der Lombardei (1504 1523); die Inquisition zieht ein Mädchen, die an Hallucinationen und ekstatischer Verzückung leidet, vor Gericht (1511); Mordmonomanie. Peter Burgot und Michel Verdung klagen sich des Mordes und der Lykanthropie an und werden in Poligny verbrannt'(1521); Process und Verurtheilung des Dr. Torralba. Er glaubte einen Genius in seinen Diensten zu haben (1528-31); Hallucinationen und Verurtheilung einer Aebtissin von Kordua (1544); Teufelswahın mit hysterischen Erscheinungen. a) Die Hystero-Damonopathie wird in der Grafschaft Hoorn epidemisch (1551); 6) Hystero-Dämonopathie im Kloster Kentorp. Das Uebel verbreitet sich in die Nachbarschaft (1552); c) Hysterische Convulsionen. Nymphomanie und Dämonopathie in Köln (1564); d) HysteroDämonopathie unter den Findelkindern in Amsterdam (1566); ein Lykanthrop tödtet vier Kinder und isst Menschenfleisch. Ein Parlamentserlass erlaubt den Bauern, auf die Wehrwölfe Jagd zu machen. Garnier, genannt der Eremit von St. Bonnot, wird verbrannt (1574); in Valery in Savoyen werden eine Menge von Wahnsinnigen verbrannt (1574); Hallucinationen und Process von Johanne Hervilliers. Sie wird in Ribemont verbrannt (1578); Dämonopathie in Mailand (1590); in Brandenburg (1594); die Dämonomanie in Lothringen (1580-95); Teufelsanbetung und Lykanthropie herrschen epidemisch im Jura (1598-1600); ein Lykanthrop, den das Criminalgericht in Angers zum Tode verurtheilt, wird vom Parlament in Paris ins Irrenhaus geschickt (1598); Marthe Brossier (1599). — Das siebenzehnte Jahrhundert eröffnen wieder die Ansichten der Schriftsteller, an welche sich folgende geschichtliche Ereignisse anschliessen: Jean Grenier wird als Lykanthrop und Mörder angeklagt und zu lebenslänglichem Gefängniss verurtheilt; eine Frau glaubt mit einem Incubus Umgang zu haben, das Parlament in Paris verurtheilt sie zum Tode (1606). (Der Beschluss folgt.)

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ALLGEMEINE LITERATUR-ZEITUNG

Monat Januar.

1849.

Halle, in der Expedition der Allg. Lit. Zeitung.

Kirchenrecht.

lichen, welches zum generellen Begriffe der Kirche nicht gehört, hineingezogen hätte. Davon abgesehen aber, sind die beiden anderen Elemente: das religiöse Leben und die Gemeinschaft, als die wirklich nothwendigen Factoren der Kirche gebührend ins Licht gestellt, und daraus ist mit sicherer

Das gute alte Recht der Kirche. Zwei akademische Reden von Dr. Karl Hase, Prof. d. Theol. zu Jena, u. s. w. gr. 8. IV u. 43. S. Leipzig, Breitkopf u. Härtel. 1847. (1/3 Thlr.) Als akademische Reden beim Rectoratswechsel Hand die Folgerung gezogen, dass die Macht, durch

gehalten, machen diese Vorträge keinen Anspruch auf gelehrte Begründung, sind aber auch als Darstellung eines wichtigen Gegenstandes in allgemeinen Zügen, dem grösseren Publikum willkommen, und der Vf. hofft nicht mit Unrecht, dass das wissenschaftlich Durchdachte auch in dieser leichteren Form, die seiner bekannten Gewandtheit ganz besonders zu Gebote steht, - seine Bestimmung erreichen werde. Die erste 1838 gehaltene Rede ist schon früher durch den Druck bekannt geworden, und erscheint hier nur, wegen ihres Zusammenhanges mit der zweiten 1847 gehaltenen, mit einigen neu hinzugefügten Anmerkungen wieder. Ihr Thema ist:,, das Rechtsverhältniss der Kirche zum Staate, mit Beziehung auf die Zukunft der deutschen Kirche." Sie sucht zu erweisen, dass Staat und Kirche in ihrer höheren Entwickelung nothwendig aus einander streben, der Staat als ein Volk in rechtlicher Ordnung, zur Erreichung alles Dessen, was ein Volk als solches zu erreichen hat: die Kirche, einerseits in ihrer Wirklichkeit sich zu abgeschlossenen Kreisen individualisirend, je nachdem Gläubige sich zu derselben Gestalt ihres religiösen Lebens vereinigen können, andererseits in ihrer Idee alle Völkerscheiden überschreitend, um die Menschheit in einem Gottesreiche zu einigen. Daran knüpft nun die zweite Rede die Beantwortung der Frage: Welches ist die Quelle aller kirchlichen Macht, also auch jedes rechtmässigen Kirchenregiments?" Die Antwort wird vor allen Dingen aus dem Begriffe der Kirche selbst abgeleitet. Die Kirche ist,, die von Christo gegründete Gemeinschaft des religiösen Lebens", sagt der Vf., und wir würden diese Definition ganz untadelhaft finden, wenn er nur nicht das Element des Christ

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welche die Kirche besteht, nur der Gesammtwille aller Einzelnen, der Quell aller kirchlichen Macht, also nur die Kirche selbst, die Gemeine seyn kann, folglich jede amtliche Macht eines Einzelnen nur eine frei zugestandene, übertragene, jedes Kirchenregiment nur ein die Gemeine vertretendes, und im Falle des Missbrauches wieder an seinen Quell zurückfallendes. Dass diese unbedingte Souverainetät des kirchlichen Volkes weder unmöglich, noch gefährlich sey, wird dann zweitens aus Thatsachen der Geschichte dargethan, unter denen besonders in den Vordergrund tritt, dass das ganze formelle Recht der Reformation darauf ruhte, dass alle Kirchengewalt von der Gemeine ausgehe, welche zur eigenmächtigen Durchführung der von der Hierarchie verweigerten Reformation ihr entwandtes, unveräusserliches Recht zurückforderte; dass aber die Reformatoren, weil sie nur um Innerliches und Ewiges sorgten, in grossartiger Unbekümmertheit das äusserliche Recht der Kirche zu Grunde gehen liessen, woher dann, bald nach dem Frühlingstraume der Reformation, die Luthers-Kirche in reichsständische Territorien zersplittert, hinsichtlich ihres Rechtszustandes das grade Gegentheil ihrer Idee darstellte. Diesen Fehler hat unsere Zeit wieder gut zu machen, und dazu sind schon bedeutende Schritte gethan. Selbst die Preussische Generalsynode, nach dem vorangegangenen königlichen Worte, dass die Kirche sich aus sich selbst erbauen müsse, hat in ihren Berathungen schon Einleitung dazu getroffen,,, an die Stelle der Fürstengewalt in der Kirche das allgemeine Priesterthum der Gläubigen zu setzen." Der Vf. setzt hinzu:,,Wer aber auch das Kirchenregiment führe und mit welcher Vollmacht: sie ist immer nur eine übertragene, also

nie unbedingte, und allein die Kirche selbst der lebendige Quell ihres Rechts, d. h. aller rechtmässigen Kirchengewalt. Nur dieses Princip wollte ich darthun; aber ein Princip kann eine rettende. Macht werden; still in der Tiefe der Herzen sich begründend, ist es die verborgene Wurzel, aus der in einem Frühlinge oder in einem Jahrhundert der Freiheitsbaum der Kirche aufwächst; er ist ihr Lebensbaum und wird gute Frucht tragen." Es wird den Vf. vielleicht selbst überrascht haben, dass, seitdem er diese Worte schrieb, der Fernblick auf ein Jahrhundert" schon zurückgetreten, und der Frühling" bereits angebrochen ist, wiewohl noch viel Regen und Sonnenschein kommen muss, bevor wir zur gesegneten Ernte gelangen.

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Ehe wir von dieser gehaltreichen kleinen Schrift scheiden, können wir uns nicht versagen, eine mit treffenden Bemerkungen begleitete, schlagende historische Parallele unseren Lesern mitzutheilen. Sie ist eine wahre Apologie der Denk-, Glaubens- und Lehrfreiheit, und lautet so: „Ein geistvoller Monarch, der sein Herz eingetaucht hat in die Ideale der Vorzeit, nannte in öffentlicher Rede Diejenigen,

die mit dem Bekenntnisse ihrer Kirche zerfallen

sind, Treulose, Eidbrüchige. Er hat wohl nicht daran gedacht, wie er nach diesem Maasstabe unter

seinen erlauchten Vorfahren zwei fromme Fürsten nenne.

Joachim II., der Kurfürst von Brandenburg, hatte seinem Vater geschworen bei seinen fürstlichen Ehren und Treuen, für sich und seine Erben am alten christlichen Glauben der römisch-katholischen Kirche festzuhalten gegen die Neuerung. Er hat dennoch nicht vermogt, dieser Erneuerung des Christenthums zu widerstehen, und ist protestantisch geworden.. Johann Sigismund hatte scinem Vater geschworen, bei Luther's Lehre festzuhalten, und er ist zur reformirten Kirche übergetreten, versichert, dass ,,in Gottes Sachen keine Reverse gelten." Wollte ich etwa den Meineid in Sachen der Religion rechtfertigen? Da sey Gott vor! Aber es ist eine grausame Collision, in die ein Gemüth geworfen wird, wenn geschworenen Eiden die junge, lebenskräftige Ueberzeugung entgegentritt. Der Vater hat kein Recht, solchen Eid vom Sohne zu fordern, noch das gegenwärtige Geschlecht vom künftigen, seinem Erben. Jeder Eid, wofern er die religiöse Ueberzeugung trifft, trägt in sich den Vorbehalt, wie jener Pfarrer ihn gemacht hat in den Tagen der Eidestyrannei durch die Concordienformel; er beschwor sie cum reser

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De titulo missionis apud Catholicos, scripsit Otto Mejer, Prof. jur. publ. ord. Regiomont. 8 maj. 34 S. Regiom., apud fratr. Bornträger. 1848. (1⁄2 Thlr.)

Phillips in München hat zuerst in seinem Kirchenrecht (1845. I. §. 58) neben den vier bisher angenommenen Titeln der Ordination: beneficii, patrimonii, paupertatis, mensae, einen fünften Titel: missionis, aufgestellt, und Richter hat in der neuesten Auflage seines Lehrbuchs dieser Aufstellung beigepflichtet.

Der verdiente Vf. widmet diesem

Gegenstand eine genauere Erörterung, und bietet uns das schon öfter beobachtete Schauspiel, dass Angelegenheiten der katholischen Kirche ihre erste gründliche Untersuchung einem Protestanten verdanken. Der Vf. weist nach, dass der titulus missionis, d. h. der durch den Missionsberuf erworbene Anspruch auf die Ordination sich nicht vereinzelt und ausnahmsweise vorfinde, sondern dass er regelmässig den grossen katholischen Instituten zur Verbreitung des Glaubens als Privilegium verliehen sey.

Bei der Gründung des Jesuitenordens kannte man den titulus missionis noch nicht, da die Zöglinge vermuthlich nichtordinirt aus der Anstalt entlassen wurden (S. 10). So enthalten die Stiftungsurkunden des collegium Germanicum (1552) und des collegium graecum (1577) noch nichts von jenem Privilegium. Dem collegium Anglicanum dagegen (1579) wurde das Recht ertheilt, seine Zöglinge sine aliquo beneficii vel patrimonii titulo zu ordiniren. Als demnächst 1584 das collegium Germanicum eine neue Constitution erhielt, wurden die Privilegien des collegium Anglicanum auch ihm verliehen (S. 16). Dasselbe ist dann weiter der Fall mit dem in demselben Jahre fundirten collegium Maronitarum, mit dem collegium Scoticum von 1600 (S. 17), mit dem wiedererrichteten collegium Viennense, Pragense und Illyricum von 1627, und insbesondere mit dem von Urban VIII. gestifteten collegium Urbanum de propaganda fide von 1627, und dem collegium Hibernicum von 1628 (S. 20). End

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