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Die Verlegenheit Oestreichs.

(Grenzboten 1870, Nr. 18.)

Nach zweiundzwanzig Jahren fruchtloser Versuche ist der Staat in ein Verfassungschaos versunken, hoffnungsärmer als im Jahre 1848. Das Bestreben der Theile, sich gegen= über dem großen Staatskörper in eigenem Leben abzusondern, ist dreister und gefährlicher geworden. Die italienischen Provinzen völlig abgelöst, Ungarn ein eigener Staat, fast nur durch Personalunion gebunden, die Deutschen in Siebenbürgen, die Kroaten und Slavonen der ungarischen Nation untergestellt. In dem vorderen Galizien haben die deutschen Beamten den Polen weichen müssen, in dem östlichen Galizien arbeitet mit naiver Offenheit eine ruthenische Partei für den Uebergang zu Rußland, in den Gebirgslandschaften des deutschen Südens proclamirt eine rührige italienische Partei ihre Sympathien für das Königreich Italien, auch die stillen Slovenen haben dem Deutschthum den Krieg erklärt und verfertigen sich rüstig eine Literatur und eine eigene Nationalität. Die Czechen rufen frech nach Rußland und fordern Selbständigkeit und Autonomie wie die Magharen, sogar das deutsche Tirol hat seine Treue vergessen, der Ultramontanismus und Provinzialsinn sind dort mächtiger geworden als die langgerühmte Anhänglichkeit an das Kaiserhaus. Die herkömmliche Oberherrlichkeit in Deutschland ist gänzlich verloren. Der Einheitsstaat, der zweitheilige Staat haben sich als unerträgliche Staatsformen der großen Ländermasse erwiesen, den schwächlichen Versuchen, eine FödeFreytag, Werke. XV.

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rativverfassung zu bilden, kann ein schnelles Ende prophezeit werden. Das scheinen traurige Aussichten für den Kaiserstaat, und es fehlt auch in Oestreich nicht an Stimmen, welche den unerhörten Zustand für den Anfang eines Endes der habsburgischen Monarchie halten.

Aber Leben und Dauer der Staaten vollendet sich nicht wie der Bestand eines Geschäftes oder das irdische Dasein eines Menschen, und man soll sich hüten, aus Gefahren, welche unter gewissen Umständen tötlich werden können, die unaufhaltsame Nothwendigkeit einer Auflösung zu folgern. Zunächst wäre verkehrt, zu behaupten, daß die 22 Jahre seit dem Sturz des Metternich'schen Systems für das politische Leben Oestreichs ohne große Erfolge vergangen seien. Im Jahre 1848 war Wien nur die stattliche Residenz des Kaiserhauses, gegenwärtig ist es eine der größten Handels- und Fabrikstädte des Festlandes geworden mit einer sehr eigenthümlichen Entwickelung der Industrie, schon jetzt für den geschäftlichen und geistigen Verkehr weiter Landstrecken die Gebieterin, welche durch ihre Presse, ihre Börse, ihre Wissenschaft und ihre Kunstindustrie unvergleichlich größere Einwirkung von Triest bis zu den Donaumündungen ausübt, als in dem Jahre, in welchem die Serezaner des Fürsten Windischgrät durch das rothe Thurmthor drangen. Und ferner, kein Staat der Welt hat größere Ausgaben gemacht als Oestreich für seine wichtigsten Culturzwecke, seine Eisenbahnen schaffen jetzt die Waaren Italiens über die Alpen, die Bodenerzeugnisse des entfernten Ostens an französische und englische Käufer, seine Dampferlinien vermitteln den größten Theil des Verkehrs im hintern Mittelmeer. Die Schlagbäume zwischen den einzelnen Reichstheilen sind gefallen. Durch einheitliches Zollsystem an den Staatsgrenzen, durch eine früher unbekannte Freizügigkeit wird eine Leichtigkeit der Bewegung und eine Leichtigkeit lohnenden Verdienstes hervorgebracht, welche Hunderttausenden die schlummernde Thatkraft geweckt hat. Unläugbar lassen Handel und Industrie Oestreichs

noch oft die Solidität und geschäftliche Redlichkeit vermissen, welche wir zu fordern gewöhnt sind, aber ebenso unläugbar ist, daß der Aufschwung des Staates nach dieser Richtung in zwei Jahrzehnten fast wunderbar groß und energisch war.

Noch sind die Finanzen übel geordnet, aber die Staatseinnahmen haben sich doch mächtig gehoben, der harte Steuerdruck wird weniger empfunden als vor zehn Jahren, und es scheint nicht unwahrscheinlich, daß der Staat in einigen Jahren. sich zu einem regelmäßigen Gleichgewicht zwischen Einnahme und Ausgabe erheben wird. Ueber den gegenwärtigen Zustand des kaiserlichen Heeres wagen wir kein Urtheil, wir neigen uns zu der Annahme, daß die Erfahrungen des letzten Krieges nicht mit der nöthigen Energie benutzt worden sind, aber die große Mehrzahl der Truppen hat sich im Jahre 1866 gegen den überlegenen deutschen Gegner tapfer geschlagen und es ist kein Grund zu zweifeln, daß das Heer, richtig geführt, auch bei einem neuen Kriege völlig seine Pflicht thun wird und daß es, geschickt benutt, auch im Innern gegen Aufstandsversuche getreu der Staatsidee dienen wird. Endlich wird Keiner unserer Freunde leugnen, daß auch die Volkserziehung und die politische Bildung in Oestreich seither sehr achtungswerthe Fortschritte gemacht haben; die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, Beschränkung der Pfaffenherrschaft, neue Organisation höherer Lehranstalten, Reform des deutschen Gerichtswesens, Theilnahme und Verständniß des Volkes für die größten Staatsfragen sind im Ganzen ein zweifelloser starker Gewinn, wenn auch nicht im gleichen Maße für alle Provinzen und wenn auch die Ungleichheit dieses Fortschritts so groß ist, daß sein Segen für das Ganze durch Rückschritte einzelner Landestheile beschränkt wird. Für die Steigerung der Interessen und der Bildung gibt sogar der Hader der Nationalitäten, verglichen mit den Zuständen des Jahres 1848, einige Bürgschaft. Damals waren die Menschen in Oestreich ganz in mittelalterlicher Weise schnell bereit, für ihre undeutlichen Ideale zu

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den Waffen zu greifen. Sie lebten abgesonderter und hatten weniger zu verlieren und ein viel geringeres Verständniß von der Bedeutung ihres Staates. Jetzt ist solche Behendigkeit nur noch in den wildesten Grenzgegenden zu finden. Die gesammte politische Agitation, wie abgeneigt immer der Centralregierung, sucht vorsichtig und mit einer gewissen Scheu vor dem Gesetz die vorhandenen erlaubten Agitationsmittel zu verwerthen. Sie ist deshalb vielleicht nicht weniger gefährlich, aber es sind doch geistige Factoren, mit denen sie rechnet, und der Kampf wird mit der Feder und in Debatten geführt, da ist doch einige Hoffnung, daß zuletzt auch die Wucht der realen Interessen sich geltend machen wird.

So schwebt der Kaiserstaat zwischen den merkwürdigsten, sonst unvereinbaren Gegensätzen. Auf der einen Seite Verfall, Auflösung, ein Auseinanderstreben der Theile, bei der großen Mehrzahl der Bevölkerung völliger Mangel an Wärme, ja unverhüllte Abneigung gegen die alte Staatsidee, auf der anderen Seite dagegen eine großartige Entfaltung der productiven Staatskraft, Steigerung des Wohlstandes, der Industrie, ja auch der socialen Bildung in den Individuen. Die Steuern werden gezahlt, die Soldaten auserercirt, das Einströmen deutscher Intelligenz dauert unablässig fort. Wollen wir demnach diesen Zustand Oestreichs in einer Formel ausdrücken, welche nicht die ganze Sachlage, aber den Hauptpunkt trifft, so erscheint Folgendes als Ergebniß der letzten Vergangenheit: die alte Idee, welche den Staat zusammenhielt, das Hausinteresse der kaiserlichen Familie Habsburg-Lothringen hat mit reißender Schnelligkeit die Bedeutung verloren, aber an Stelle des alten Bandes tritt eine andere verbindende Gewalt, die Gemeinsamkeit der wichtigsten realen Interessen, deren Centrum die Hauptstadt Wien geworden ist. Nicht mehr die Hofburg ist der festeste Mittelpunkt des östreichischen Staates, sondern die Stadt Wien selbst ist es, mit den neuen Straßen auf dem bebauten Glacis, mit ihren Capitalien, ihrer starken Production,

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