geworden ist, das hat man so ausgedrückt: von positiver Kirchenzucht müsse man in unsern Landeskirchen vor der Hand ganz oder doch fast ganz Umgang nehmen, unerläßlich aber sei negative Kirchenzucht. Da kommt es doch vor allem darauf an, daß man bei jenem Verzicht auf positive Kirchenzucht ein gutes Gewissen habe. Und dazu ist erforderlich, daß man sich recht klar darüber sei, was unter positiver Kirchenzucht zu verstehen sei, und weshalb darauf vor der Hand verzichtet werden könne oder müsse. Die eigentliche Kirchenzucht gipfelt in einer den Weisungen des Herrn und der apostolischen Uebung entsprechenden zeitweiligen Ausschließung aus der Kirche als Heilsgemeinde ; sie ist immer nur unvollständig, wenn sie nicht diese als ihr leztes Mittel in Bereitschaft hat; nur eine nöthigenfalls darauf wirklich hinauslaufende Kirchenzucht stellt das Wesen christlicher Kirchenzucht vollkommen dar. Nur aus der richtigen Erkenntniß der Zwecke, welche nach dem Schriftzeugniß jene Ausschließung hat, kann sich uns ergeben, zu welchen Zwecken überhaupt Kirchenzucht geübt werden soll. Es wird aber hier nicht erst eines Erweises bedürfen, daß nach der h. Schrift die Ausschließung aus der Kirche als Heilsgemeinde den doppelten Zweck hat, einmal den Ausgeschlossenen selbst zu wahrer Buße zu bewegen, auch die durch ihn entheiligte Gemeinde wieder zu heiligen, und sodann von derselben weiteres Aergerniß abzuwehren; also einen positiven und einen negativen Zweck. Alle Uebung der Kirchenzucht muß diese beiden Zwecke zugleich im Auge haben, so weit das irgend möglich ist. Aber sie kann im einzelnen Fall den einen Zweck dem andern unterordnen, entweder vorzugsweise den positiven, oder vorzugsweise den negativen verfolgen, und darauf wohl die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Kirchenzucht gründen, um sie im richtigen Sinn zu vollziehen. Dann wäre also positive Kirchenzucht diejenige, welche vorzugsweise auf Besserung des Einzelnen, gegen den sie gerichtet ist, und Heiligung der Gemeinde ausgeht, negative diejenige, welcher es vorzugsweise auf Abwehr von Aergerniß anfommt. In sofern die positive Kirchenzucht Gefallene zur Buße zu führen sucht, hat sie das gleiche Ziel mit der Seelsorge, wie sie durch Verwaltung der Gnadenmittel geübt wird. Und auch in sofern sie die durch die Versündigung des Einzelnen entheiligte Gemeinde wieder heiligen will, trifft in diesem Streben die Seelsorge mit ihr dadurch zusammen, daß die Seelforge gleichfalls mittelst ihrer Arbeit an dem einzelnen Gefallenen zur Erbauung der Gemeinde beizutragen trachtet. Hieraus ergibt sich, daß die Frage, ob zeitweise auf Uebung positiver Kirchenzucht verzichtet werden könne, sich auch so fassen läßt: kann zeitweise der Seelsorge allein überlassen werden, wofür eigentlich Seelsorge und Kirchenzucht mit einander thätig sein sollen? Durch Abstehen von der Uebung positiver Kirchenzucht wird keineswegs die Verfolgung ihres Zwecks ganz aufgegeben, wenn nur fortwährend die Seelsorge treulich geübt wird; es wird dadurch zunächst nur für die Seelsorge eine Erweiterung und Steigerung ihrer Aufgabe bewirkt. Eben darin aber liegt der Hauptgrund, aus welchem jedenfalls eine zeitliche Nichtausübung der positiven Kirchenzucht als nicht unbedingt unstatthaft zu betrachten ist. Gewiß aber ist sie doch nur in dem Maaß als statthaft anzuerkennen, in welchem sie sich als nothwendig darstellt. Denn soweit es möglich ist, daß der Seelsorge durch Handhabung positiver Kirchenzucht Unterstüßung und Erleichterung in der Erfüllung ihrer Aufgabe gewährt werde, würde es unrecht sein, sie ihr zu versagen oder zu entziehen. Die Hauptfrage ist eben die, ob es mit der behaupteten Unmöglichkeit positiver Kirchenzucht in der Gegenwart wirklich seine Richtigkeit hat; oder vielmehr ob diese Unmöglichkeit der Art ist, daß man sich dabei beruhigen soll? Denn das hat freilich die Erfahrung sattsam gelehrt, daß um des Wi derstandes willen, welchen schon die ersten und bescheidensten Versuche ihrer Wiederherstellung bei der großen Menge fanden, jedenfalls von Seiten der Staatsgewalt die dazu verfas= sungsgemäß erforderliche Genehmigung nicht so bald zu er= langen sein würde, und daß auch, wenn dies der Fall wäre, dann eben doch jener unfehlbar sich erneuernde Widerstand die Durchführung thatsächlich unmöglich machen müßte. Aber wenn blos aus solchen Gründen positive Kirchenzucht in unsern Landeskirchen unmöglich wäre, so würde sich die Frage aufdrängen, ob man dann nicht lieber den Bestand der Landeskirchen selbst daran sehen sollte. Es könnte auch einmal aus den gleichen Gründen unmöglich werden, in den Landeskirchen die Reinheit der Lehre zu bewahren; in diese Unmöglichkeit würde man sich doch gewiß nicht mit gutem Gewissen fügen können. Die Unmöglichkeit positiver Kirchenzucht muß auf einer auch bei dem besten Willen unüberwindlichen Mangelhaftigkeit der inneren Beschaffenheit der Kirche selbst beruhen, die aber zugleich doch mit dem Wesen derselben vereinbar ist, und deshalb als ein gottgeordnetes Leiden getragen, nicht als ein gottwidriges Uebel geflohen werden muß. Wollen wir uns nun klar darüber werden, ob und wie weit gegenwärtig positive Kirchenzucht aus solchen Gründen unmöglich ist, so ist vor allem zu bedenken, daß es sich hiebet in der That nicht blos darum handelt, ob die Handlungen äußerlich vollzogen werden können, mittelst welcher nach den Weisungen des Herrn und nach altkirchlichem Brauch die Uebung positiver Kirchenzucht vor sich zu gehen hat, sondern am meisten darum, ob sie im Sinn des Herrn und mit dem von ihm gewollten Erfolg vollzogen werden können? Darin besteht eben zwischen Kirchenzucht und Strafrechtspflege ein sehr wesentlicher Unterschied. Für die Anwendbarkeit eines Strafgesetes ist es wenigstens verhältnißmäßig gleichgiltig, ob Richter vorhanden sind, welche es mit der richtigen Gesinnung handhaben, und ob seine buchstäblich genaue Anwen dung auch den Zweck erreicht, den der Gesetzgeber damit er: reicht wissen wollte. Für die Anwendbarkeit der Weisungen des Herrn über Kirchenzucht verhält es sich ganz anders. Sie sind eben nicht Geseße für die Kirche als eine Rechtsanstalt, sondern Mahnungen für die Kirche als Gemeinde der Gläubigen, dem Triebe des in ihr wohnenden Geistes Christi zu folgen, Mahnungen, wodurch der Herr nur in bestimmte Worte gefaßt hat, was der Sinn dieses innerlichen Geistestriebes ist. Der Herr wollte damit nicht gebieten, daß auch wo es an diesem Geistestrieb mangle, gleichwohl dasselbe äußerliche Verfahren beobachtet werde, wozu es bei der Folgsamkeit gegen denselben, wenn er innerlich vorhanden ist, von selbst kommt; und er wollte das nicht gebieten, weil es dann doch nicht die Wirkung hervorbringen könnte, um welcher willen allein er jenes Verfahren seinen wahren Jüngern vorschrieb. Daraus soll natürlich mit nichten gefolgert werden, daß die vom Herrn gewollte Kirchenzucht nur in solchen Gemeinden geübt werden könne, deren Glieder sämmtlich und etwa gar gleichmäßig von dem Geiste Christi erfüllt seien. Man hat sehr richtig bemerkt, daß augenscheinlich jene Weisungen des Herrn im Gegentheil Gemeinden vorausseßen, in welchen es an offenbaren Sünden und Sündern nicht fehle, also Gemeinden, wie sie in diesem Leben wirklich sind, nicht ideale Gemeinden; daß sie nicht den Zustand der Kirche, wie er eis gentlich sein sollte, vorausseßen, sondern einen Zustand der Kirche, wie er in dieser Weltzeit wirklich möglich ist, einen Zustand, wornach sie Gute und Böse zugleich in ihrer äuße ren Gemeinschaft befaßt. Wohl aber kann und muß das da raus gefolgert werden, daß zur wirklichen, nicht blos scheinbaren Möglichkeit der vom Herrn gewollten Kirchenzucht Christengemeinden gehören, in welchen die Gesammtheit vom Geiste Christi durchdrungen ist, oder in welchen wenigstens solche, die mit Ernst Christen sein wollen“, die Oberhand haben und diesen „Böse und Heuchler“ eben nur „beigemischt“ sind. Dies Kirchenzucht. 159 ist eine nicht nur überhaupt, sondern allezeit und überall mögliche Beschaffenheit von Christengemeinden. Nur hebt es das Wesen der Kirche nicht auf, wenn sie irgendwo und irgendwann bei den meisten oder sogar bei allen Gemeinden einer bestimmten Kirche mangelt. Der Bestand der Kirche ist nur dadurch bedingt, daß es in ihr nicht an reiner Predigt und Sakramentsverwaltung mangelt, nicht aber dadurch, daß diese Gnadenmittel auch immer jene Beschaffenheit aller oder vieler Gemeinden oder auch nur einer einzigen wirklich hervorbringen; es kann nicht fehlen, daß ihre rechte Verwaltung in Einzelnen hie und da rechte Frucht bringt, und aus diesen Einzelnen besteht dann die rechte Kirche in dem Kirchenthum, dessen Kirchengemeinden meist oder insgesammt jener für die wahre Möglichkeit positiver Kirchenzucht erforderlichen inneren Beschaffenheit ermangeln. So verhält es sich nun aber in der That mit den lutherischen Landeskirchen der Gegenwart, die wir hier im Auge haben. Es ist in ihnen die schriftgemäße Lehre und Sakramentsverwaltung berechtigt, ja allein berechtigt, und es mangelt auch in ihnen nicht an wirklicher Uebung derselben. Wir können in ihnen allenthalben reines Wort und Sakrament fordern, wir können es in ihnen allenthalben wirklich haben. Darum können, oder vielmehr darum müssen wir in ihrem Verbande verbleiben; darum können und müssen wir alles, was sonst in ihrer Beschaffenheit mangelhaft ist, tragen. Aber darin ist wirklich ihre Beschaffenheit sehr mangelhaft, daß wenigstens in ihren meisten einzelnen Gemeinden diejenigen, welche mit Ernst Christen sein wollen, die Minderzahl, oft eine sehr kleine und, was die Hauptsache ist, eine sehr schwache, einflußlose, Minderzahl ausmachen, und darum ist in ihnen zur Zeit die Handhabung positiver Kirchenzucht in der That wenigstens nicht allgemein und nicht in vollständiger Weise möglich. Keineswegs aber läßt sich schon deshalb so ohne weiteres behaupten, daß in unseren Landeskirchen alle Uebung positi |