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Zu dieser idealistischen Auffassung des Lebens und der Menschen haben Milton's persönliche Schicksale nicht wenig beigetragen. Er brachte seine Jugend großentheils fern vom Geräusche der Welt in stiller Zurückgezogenheit zu, wo er sich mit dem unermüdlichsten Fleiße den Wissenschaften hingab, um den glühenden Durst nach Weisheit und Erkenntniß zu befriedigen. Er schloß keinen Zweig von dem Bereiche seiner Forschung aus, doch widmete er, außer der Bibel, vorzugsweise der altclassischen Literatur und den poetischen Erzeugnissen der Italiener seine geistige Thätigkeit. Eine Reise nach Italien war die einzige vorübergehende Unterbrechung dieses eifrigen Studienlebens, was die zwiefache Folge hatte, daß es ihn dem praktischen, handelnden Leben und der Berührung der Außenwelt enthob und daß es seine Augen dermaßen schwächte, daß er kurz nach Begründung der Republik völlig erblindete. Dadurch sah er sich noch mehr als zuvor ausschließlich auf sein Inneres gewiesen; die Außenwelt war ihm jezt nur noch durch fremde Vermittelung zugänglich; es ist also nicht zu verwundern, daß er sich den Menschen nach seiner innern Auffassung dachte, daß er das Urbild seiner Gestaltungen aus seiner an edler Lectüre gebildeten und gestärkten Seele schöpfte, daß er die Menschheit theils in der jugendlichen Kraft des Alterthums, theils in der idealen Vollendung ber Dichtkunst sich vorstellte. Darum müssen viele seiner Vorschläge und Ideen dem nüchternen Betrachter menschlicher Dinge als Traumgebilde erscheinen, die nur bei einem bis in die untersten Klassen durchgebildeten und veredelten Menschengeschlechte einen festen Boden und dauernden Haltpunkt finden könnten, die aber an einem gebrechlichen, von materiellen Interessen und rohen Leidenschaften so sehr beherrschten Geschlechte, wie die untern Volksklassen des damaligen und jetzigen Europa, nothwendig scheitern müßten. Diesen idealen Standpunkt des dichterischen Publicisten müssen wir stets bei Beurtheilung seiner Ansichten und Vorschläge vor Augen haben. Sein Reich ist nicht von dieser Welt, so wenig als die geistigen Gebilde eines Plato oder die utopischen Träume eines Jean Jacques Rousseau, mit welchem Leztern

er in mancher Beziehung verglichen werden kann, so verschieden auch im Allgemeinen Beider Naturen waren.

Milton und Rousseau waren darin ähnlich, daß sie den Zeitgeist, wie er sich in den edelsten Naturen ihrer Nationen zu entfalten begann, richtig erriethen und zur Ausbildung führten. In England hatte der Religionsdruck der bischöflichen Hierarchie, verbunden mit dem verlegenden Hochmuthe und den absolutistischen Bestrebungen der Stuarts, eine allgemeine Sehnsucht nach Befreiung von diesem zwiefachen Joche erzeugt. Diese Sehnsucht äußerte sich zunächst in einer negirenden Opposition gegen die herrschenden Gewalten, eine Opposition, die der Natur der Sache nach in ihrem zerstörenden Gange so lange fortschritt, bis sie auf dem entgegengesetzten Extrem angekommen war, wo dann nothwendig ein Rückschlag erfolgen mußte. Diesen geistigen Proceß machte Milton vollkommen mit, so lange der Widerstand gegen Absolutismus und Hierarchie in der Action und im Zunehmen war; als aber der reactionäre Rückschlag erfolgte, beharrte er mit ehrenwerther Consequenz, die überhaupt einen hervorragenden Zug in Milton's Charakter bildet, bei seiner ursprünglichen Ansicht und stand daher bald mit denselben Grundsäßen, die vorher der größte Theil der Nation mit ihm getheilt hatte, vereinsamt da. In Frankreich bildete sich im nächsten Jahrhundert auf langsamem Wege eine nicht minder starke Opposition gegen die bestehenden Einrichtungen, Gewohnheiten, Sitten und Mißbräuche in Kirche, Staat und öffentlichem Leben. Diese Opposition erhielt durch Rousseau eine eigenthümliche Richtung und ein positives Ziel in der Aufstellung des Princips, daß nur in der Rückkehr zur ursprünglichen Einfachheit und Wiederherstellung eines reinen Naturzustandes die Gebrechen der Zeit und der menschlichen Gesellschaft ge= heilt werden könnten. Auch dieser geistige Proceß führte zulezt zum Umsturz des Bestehenden; allein Rousseau erlebte nicht den Ausbruch der blutigen Revolution, wodurch dieser Umsturz bewirkt wurde; es blieb daher ein Räthsel, wie er sich gegen die praktische Realisirung seiner Idee verhalten haben würde. Schwerlich hätte er dieselbe Consequenz des Charakters gezeigt wie Milton.

Darin also sind beide Männer ähnlich, daß sie die echten Kinder ihrer Zeit waren und von der herrschenden Geistesrichtung ebenso wohl getragen wurden, als sie dieselbe bestimmten. Sie sind auch darin ähnlich, daß sie den Menschen von seiner göttlichen Seite erfaßten und seine Natur und sein Wesen idealisirten; daß sie Vorschriften gaben, wie man diese edle Menschennatur durch gutgeleitete Erziehung immer mehr ihrer Bestimmung der Gottähnlichkeit nahe bringen könne; daß sie bei dieser Erziehung den alten gänzlich vergessenen Spruch: ut sana mens sit in sano corpore, durch größere Beachtung der körperlichen Ausbildung wieder zu Ehren bringen wollten. Sie gehen ferner bei Aufstellung ihrer politischen Systeme von dem Grundsage der Volkssouveränetät aus und fußen auf der Lehre, daß der Staat ein Gesellschaftsvertrag mit gegenseitig bindenden Gesezen sei, und daß die Staatsform, in welcher der Volkswille sich am reinsten und unmittelbarsten kund gebe, die zweckmäßigste und der Idee am meisten entsprechende sei. In ihrer religiösen Anschauung haben sie trotz der innern Grundverschiedenheit darin Aehnlichkeit, daß Beide Form und Inhalt streng scheiden und jene als unwesentlich der freien Wahl des Individuums anheimgestellt wissen wollen. Was aber den Kern des Glaubens, den Beide heilig halten, betrifft, so tritt hier die große Verschiedenheit der Zeiten, als deren Organe Beide dastehen, recht auffallend hervor. Milton hält an der evangelischen Lehre fest und sieht in der gläubigen Hingebung an das Wort und den Geist der heiligen Schrift das echte Kennzeichen eines vollkommenen Menschen: Rousseau bringt selbst die Christuslehre in ihrer specifischen Erscheinung einer idealen Naturreligion zum Opfer, um das Band, das die Creatur mit dem Schöpfer verbindet, so allgemein und geistig zu machen, daß alle Menschen ohne Unterschied dasselbe faffen könnten. Milton erscheint überall als strenggläubiger Christ, Rousseau als idealistischer Religionsphilosoph.

Trotz dieser einzelnen Aehnlichkeiten sind die Schriften beider Männer sehr verschieden. Sie gleichen sich nur in dem einen Punkte, daß sie alle in einer poetisch oder rhetorisch gehobenen Sprache und

Darstellung abgefaßt sind. Zwar tragen Milton's Werke nicht das leichte, elegante Gepräge, das die Schriften des französischen Philosophen auszeichnet; dafür enthalten sie aber viele Stellen von echt poetischem Schwung und pathetischer Beredsamkeit. Milton geht in seinen Schriften stets von positiven Säßen und unbestrittenen Wahrheiten aus und nimmt seine Argumente weniger aus dem eigenen raisonnirenden Verstande, als aus den Schriften der Alten oder aus der Bibel; Rousseau beginnt nicht selten mit einer petitio principii, indem er einen vieldeutigen, halbwahren Saß an die Spiße stellt und dann durch eine Reihe dialektischer Schlüsse und Folgerungen den Leser mit einem sophistischen Net umstrickt, aus dem er sich nicht loszuwinden vermag, bis er auf den Ausgangspunkt selbst zurückgeht. Milton hielt sich rein von allen sittlichen Verirrungen der Jugend, führte stets einen moralisch-tadellosen Lebenswandel und bewegte sich in geordneten häuslichen und bürgerlichen Verhältnissen; dieser Umstand gab ihm festes Selbstvertrauen und einen von aller Menschenfurcht freien Muth. Rousseau gerieth durch harte Schicksalsschläge, durch Verführung und Charakterschwäche auf mancherlei Abwege, wodurch sein Leben vergiftet, sein Geist von einer krankhaften Reizbarkeit getrübt und seinen Lehren die feste Grundlage des sittlichen Ernstes entzogen wurde. Daher empfängt man beim Lesen der Milton'schen Schriften den Eindruck von einem mannhaft und siegreich durchgeführten Kampfe, während man bei Rousseau zugleich die Seelenleiden und die Verfolgungen des Verfassers durchfühlt. Dort herrscht ein gesunder, reiner Sinn und ein klarer selbstbewußter Menschengeist; in Rousseau ist unter reizender und verlockender Hülle viel geheimes Gift enthalten; und während Milton mit blanker Waffe und offenem Visir geradezu auf den Feind losgeht und ihn aus seinem Bollwerk herauszutreiben sucht, untergräbt Rousseau die Funtamente und bringt somit den Feind sammt seiner Schutzwehr zu Falle. Rousseau's philosophischer Geist drückt allen seinen Werken und Gebilden eine entschieden subjective Prägung und Färbung auf; Milton's episch-plastische Dichternatur gibt seinen Schö

pfungen eine klare objective Gestalt, denen mitunter zu einem poetischen Kunstwerk nur die dichterische Form abgeht.

Mögen diese wenigen einleitenden Worte genügen, um das Interesse des Lesers auf einen Mann zu lenken, dessen Persönlichkeit bisher unter uns noch sehr wenig bekannt war; der mit unwandelbarer Consequenz und Charakterfestigkeit dieselben Ansichten und Grundsäge in sich getragen und verfochten hat, wie sich auch die äußern Umstände gestalten und verändern mochten, und der unter vielen Ansichten und Behaup tungen, die als gewagt und extrem erscheinen dürften, und deren praktische Verwirklichung mitunter sehr bedenklich sein möchte, nie einen gemeinen Grundsatz, nie einen unebeln Gedanken ausgesprochen hat. Eine reine Dichternatur, hat Milton die ihn umgebende Welt idealistisch gesteigert, und manche seiner Ideen tragen den Stempel dieser Auffassung an sich und eignen sich ihrer Erhabenheit und Idealität wegen nicht für das gebrechliche Menschengeschlecht der rauhen Wirklichkeit; aber sein eigener Werth wird dadurch um nichts geschmälert. Möge nie die Zeit kommen, wo der praktische Nutzen der einzige Maßstab der Beurtheilung wird!

2. Milton's selbstentworfene Lebensskizze.

Als Milton's Widersacher, aus Zorn über die vernichtende „Schußrede für das englische Volk" gegen Salmafius, seinen Wandel zu verdächtigen suchten und seine Blindheit als Strafe des Himmels für sein unsittliches Leben darstellten, da gab er in seiner „Zweiten Schußrede“ folgende Nachrichten über sich und seine früheren Lebensjahre, um die Verleumder zu widerlegen und zu beschämen:

„Ich bin geboren in London von ehrbaren Eltern2); mein Vater war ausgezeichnet durch unwandelbare Rechtschaffenheit, meine Mutter durch große Mildthätigkeit, die ihr die allgemeine Achtung erwarb. Mein Vater bestimmte mich von Kindheit an zur literarischen Laufbahn und mein Durst nach Wissen war so gewaltig, daß ich von meinem zwölften Jahre an fast nie meine Studien verließ und selten vor Mitternacht zu Bette ging. Dies zog mir hauptsächlich den Verlust meines Gesichts

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